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Nachruf auf Wolfram Pohlers (1943-2024)

Kurz vor Weihnachten 2024 ist der ehemalige Inhaber des Lehrstuhls für Mathematische Logik und Grundlagenforschung an der Universität Münster und das langjährige Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Zentrums für Wissenschaftstheorie (ZfW), Prof. Dr. Wolfram Pohlers, verstorben.

Seine überaus großen Verdienste um die mathematische Logik und die Beweistheorie könnten wohl nur von Fachleuten angemessen gewürdigt werden. Aber Wolfram Pohlers hat sich auch in besonderer Weise um das Zentrum für Wissenschaftstheorie verdient gemacht. Daran soll hier erinnert werden.

Eigentlich, so hat er mir mehrmals berichtet, ist Wolfram Pohlers zweimal zum ZfW gekommen. Zuerst kurz nach der Gründung des ZfW vor fast genau 19 Jahren. Keinesfalls war er danach im ZfW inaktiv; so hielt er etwa den Auftaktvortrag zur zweiten Ringvorlesung des ZfW im Wintersemester 2006/07. Und doch war es laut Wolfram Pohlers die verschmitzt gemeinte Bemerkung der früheren Geschäftsführerin des ZfW, Eva-Maria Jung, er sei ja „eigentlich eher eine Karteileiche beim ZfW“, die ihn zum zweiten Mal zum ZfW führte (das muss etwa 2010 gewesen sein). Das, so sagte er, wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Und so wurde aus der vermeintlichen Karteileiche eines der aktivsten Mitglieder des ZfW.

Wolfram Pohlers hat sich in besonderer Weise für das ZfW engagiert. Sei es für das ZfW als Institution, wenn es etwa darum ging, die Finanzierung sicher zu stellen, sei es in inhaltlicher Weise, wenn es darum ging, spannende Veranstaltungen mitzuorganisieren oder Vorträge zu halten. Am nachhaltigsten jedoch dürften seine Verdienste um das ZfW sein, die nicht in Vortragsdaten, Veranstaltungsorganisationen oder Finanzierungszusagen festzuhalten sind. Denn als stets scharfsinniger Diskussionspartner in zahlreichen Sitzungen des Arbeitskreis Wissenschaftstheorie oder der Ringvorlesung, als gewitzter Erzähler unzähliger Anekdoten aus dem Universitätsalltag und auch einfach als zugewandter Freund vieler ZfW-Mitglieder wird er fehlen.

Wolfram Pohlers stellte sich in der Vorstellungsrunde des Arbeitskreises Wissenschaftstheorie, in dem er gemeinsam mit Gernot Münster jahrelang, wie er es ausdrückte, den „Seniorentisch“ besetzte, stets damit vor, dass er ja „wissenschaftstheoretischer Laie“ sei und den Arbeitskreis besuche, um etwas zu lernen. Einerseits war dies sicher ein Understatement, denn seine veröffentlichten Arbeiten sind natürlich wissenschaftstheoretisch relevant. Andererseits hatte seine Selbstbeschreibung wohl mit der Tatsache zu tun, dass er sich mit der Diskussionskultur, die er in wissenschaftstheoretischen Kontexten beobachtete, nie wirklich anfreunden konnte. Gemessen an den strikten, von der mathematischen Logik geprägten Standards, die er an sich und andere anlegte, war ihm vieles in der Wissenschaftstheorie zu schwammig. „Quine ist doch so ein großartiger Logiker; ich verstehe nicht, warum er dann hier so unklar schreibt,“ lautete etwa das Urteil, das sich auch auf Putnam oder andere beziehen konnte. Die unterschiedliche Art und Weise, wie aus Wolfram Pohlers Sicht Logiker*innen und Philosoph*innen an wissenschaftliche Fragestellungen herangehen, war auch ein häufiges Diskussionsthema zwischen uns – im persönlichen Gespräch, aber besonders häufig per E-Mail. Sehr lange E-Mails, die der Nachtarbeiter Pohlers gern auch um 03:00 Uhr an mich schickte, begannen häufig mit der Bemerkung, dass er ja eigentlich an einem mathematischen Beitrag arbeite, aber doch lange über eine in einer Diskussion aufgekommene Frage nachgedacht habe, und nun „wissenschaftstheoretisch prokrastiniere“. Auch wenn Wolfram Pohlers also die von ihm identifizierte Diskussionsweise in der Philosophie stets suspekt blieb, so interessierte er sich doch stark für wissenschaftstheoretische Kernfragen. Ich erinnere mich an lange Diskussionen zum Verstehens- und zum Wahrheitsbegriff. Zudem zeichnete ihn eine gesunde – vielleicht mathematische, vielleicht sogar trotz seiner bayrischen Herkunft, westfälische – Sturheit aus. Wenn er eine Frage oder Antwort nicht verstanden hatte, dann beharrte er darauf sie zu verstehen. Wenn es ein wissenschaftstheoretisches Problem gab, dann versuchte er es zu lösen. So war es nicht unüblich, dass er zu einer von ihm geleiteten Sitzung des Arbeitskreises erschien und mit der Bemerkung, er „habe sich da einmal ein paar Gedanken dazu gemacht“ einen 15seitigen, eigens verfassten Text zur Verfügung stellte. Auch mir schickte er eigens verfasste Texte zu vielen wissenschaftstheoretischen Fragestellungen – etwa zum Induktionsproblem, zu Zenons Pfeil und anderen Fragen. Er betonte dabei immer, dass diese Texte ja „mit heißer Nadel gestrickt“ und „nur für Sie“ seien. Doch bei der Lektüre konnte man schnell deren hohe Qualität feststellen.

Wolfram Pohlers hätte aufgrund der hohen Wertschätzung seiner wissenschaftlichen Arbeiten durchaus Grund gehabt, eine überhebliche Attitüde zu entwickeln. Doch genau das Gegenteil war der Fall: Ich kenne nur wenige, die unprätentiöser wissenschaftliche Diskussionen geführt haben, als Wolfram Pohlers. Ob er mit den (vermeintlich) Großen der Zunft oder der Studentin aus dem ersten Semester im Arbeitskreis diskutierte, er machte in der Sache keinen Unterschied. Wenn es so etwas gibt, so verkörperte Wolfram Pohlers in paradigmatischer Weise den wissenschaftlichen Geist.

Auch institutionell war Wolfram Pohlers ein Universitätsmensch. Statt prinzipielle Grundsatzdiskussionen über Wissenschaftspolitik zu führen zeichnete ihn ein scharfer Blick für pragmatische Lösungswege aus. Ein Problem galt es anzupacken und zu lösen, nicht womöglich ergebnislos auszudiskutieren.

Seine uneitle Persönlichkeit zeigte sich nicht nur in wissenschaftlichen Diskussionen. Auch wenn wir über Persönliches sprachen, nahm er sich nicht wichtig. Immer wenn ich ihn in den letzten Jahren anrief oder traf, sprach er nur kurz über sich und seinen Gesundheitszustand. Die nächsten Fragen waren stets: „Und wie geht es Ihnen? Was macht die Familie, was machen die Kinder?“

Wolfram Pohlers ist mir – und meiner Familie – über die vergangenen 15 Jahre, die wir uns kannten, zu einem Freund geworden. Während der, das hat er immer wieder betont, von ihm sehr geschätzten und zuletzt vermissten „Nachsitzungen“ der Ringvorlesungen haben wir viel Sinnvolles – und so manches Nicht-Sinnvolles – besprochen.

Nach der Geburt unseres ersten Kindes war es Wolfram Pohlers, der mich als erster außerhalb des engsten Familienkreises anrief. Die alte Holzeisenbahn, die „Opa Pohlers“ – wie mein Erstgeborener ihn nennt – bei uns vorbeibrachte, wird sicher noch lange bespielt werden. „Herr Seidel, bei uns im Keller ist noch so viel Spielzeug; kommen Sie doch mit Ihrer Familie bald einmal vorbei, um das abzuholen,“ war einer der letzten Sätze, die er am Telefon zu mir sagte. Erneut uneitel und pragmatisch ging es ihm darum, dass das wir Spielzeug doch noch gebrauchen können, und nicht darum, ihn zu besuchen. Leider haben wir einen Besuch nicht mehr geschafft. Das ZfW – und ich – werden ihn sehr vermissen.

Markus Seidel