Ziel der studentischen Theorie-Praxis-Reflexion im Projekt

„Die für den Lehrberuf benötigten Kompetenzen schließen neben Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten auch Einstellungen und Haltungen gegenüber Vielfalt ein, die durch professionsbezogene, erfahrungsbasierte und theoriegestützte Reflexion entwickelt und durch Praxiserfahrung erlebbar werden müssen.“ (HRK & KMK 2015, S. 3)

Die jeweiligen kooperativen Praxisprojekte zur Förderung des fachlichen Textverstehens setzen an diesem Punkt an, indem sie die theoriebasierte und praxisbezogene Reflexion als Professionalisierungschance für den Aufbau grundlegender Diagnose-, Planungs- und Handlungskompetenzen im Bereich einer fachintegralen Förderung des Textverstehens auffassen.
Daher wurde im Rahmen des Projekts ein Reflexionsprozessmodell entwickelt, das die Professionalisierung durch Reflexion der Vermittlung fachspezifischer individualisierend-differenzierter Texterschließungsstrategien (ProRefiT) fokussiert (vgl. Krüger & Winter 2019).
Das ProRefiT-Modell ist ein handlungsbezogenes Prozessmodell, das die Studierenden im Kooperationsprojekt eng anleitet und sie zu einer mit der Theorie verknüpften Sekundärerfahrung führt. Diese wird dadurch ermöglicht, dass sie eine individuelle Primärerfahrung aus der schulischen Praxis reflektieren, die sich für sie als ein subjektiv bedeutsam wahrgenommenes Moment in der Vermittlung von fachspezifischen Lese- und Verstehensstrategien in einer heterogenen Lerngruppe erwiesen hat, das insbesondere auch aus fachlicher Perspektive reflexionsrelevant ist.
Das Modell funktioniert in seiner Schrittigkeit zunächst überfachlich, wird aber in den konkreten Fachprojekten mit jeweils spezifischen Inhalten unterfüttert und bildet auf diese Weise die Basis für fachlich ausdifferenzierte Reflexionsleitfäden.

Das ProRefiT-Modell der studentischen Theorie-Praxis-Reflexion

Das ProRefiT-Modell | Entwicklung und Konzeption

In der Forschung herrscht weitgehend Konsens darüber, dass ein gelungener Reflexionsprozess die Zusammenführung von Praxis und Theorie umfasst (vgl. Altrichter & Posch 2007). Erst eine Reflexion, die zwischen individueller Praxiserfahrung und Theorie changiert, führt zu dem „Never-ending Cycle of Teacher Growth“ (Mayher & Brause 1998, S. 23). Das heißt für die Praxisprojekte konkret, dass fachwissenschaftliche und -didaktische Theorien zum Textverstehen im Fach sowie fachlich profilierte Lese- und Verstehensstrategien ebenso wie theoretische und empirische Befunde zum Umgang mit Heterogenität nicht nur bereitgestellt werden, sondern dezidiert die Folie für die Reflexion bilden.
Auf Basis einer Synopse einschlägiger Arbeiten zur Reflexion und zum Reflexionsprozess (u. a. Dewey 1933; Schön 1983; Bain et al. 2002; Košinár 2014) ließen sich Merkmale und Eigenschaften von Reflexionsprozessmodellen bestimmen.
Dabei gilt Reflexion prinzipiell als ein zyklisch verlaufender Prozess, der letztlich auch in die Erprobung neuer Handlungsoptionen münden kann. Im Hinblick auf den Novizenstatus der Studierenden wird im Kontext des Projekts zu einer Reflection on Action angeleitet, d. i. eine zeitlich nachgeordnete Reflexion, die darauf abzielt, die zugrundeliegenden Annahmen und Gründe für eine bestimmte Handlung nachträglich zu erklären (vgl. Schön 1983). Dadurch wird das Erlebte ggf. unter Einbezug anderer Perspektiven (z. B. der kooperierenden Lehrkraft) ergründet.
Vor diesem Hintergrund wird Reflexion im Kontext der Praxisprojekte als ein mehrschrittiger, zyklischer und der unmittelbaren Erfahrung nachgelagerter Prozess definiert, durch den ein Bedeutungs- und Erklärungstransfer auf zukünftige Situationen initiiert werden kann.

Modellgrafik des ProRefiT-Modells
© Kilimann, Krüger, Winter 2020

Erläuterung der einzelnen Reflexionsprozesse

Im Folgenden werden die einzelnen Prozesse der Reflexion entsprechend ihrer Nummerierung in der Modellgrafik erläutert. Dies geschieht zunächst fachunabhängig. Die konkrete Umsetzung der einzelnen Komponenten in den Fachprojekten wird im Abschnitt Praxisprojekt innerhalb der jeweiligen Fachprojekte skizziert.

  • (1) Framing

    Als grundlegend für einen gelingenden Reflexionsprozess stellt Schön (1987) das Framing heraus. Framing meint die (theoretische) Rahmung des Reflexionsprozesses durch spezifische Vorgaben, die die Blickrichtung und den Fokus schärfen. Dies zielt also darauf ab, die Wahrnehmung der Reflektierenden innerhalb der hochkomplexen Situation des Unterrichts, die durch Vernetzung, Intransparenz, Eigendynamik und Unvollständigkeit geprägt ist (vgl. Dörner 1993), auf ein nicht nur subjektiv bedeutsames, sondern auch aus fachlicher Perspektive reflexionsrelevantes Moment zu lenken.
    Ein in diesem Sinne relevantes Moment kann überhaupt nur, so Schöns (1987) These, innerhalb eines vorgegebenen Bezugsrahmens und mit einer spezifischen Blickrichtung identifiziert und angemessen reflektiert werden. Erst vor einem solchen Hintergrund ist es zum Beispiel möglich, dass subjektive Theorien (z. B. durch eigene Schulerfahrungen) und implizites Wissen expliziert und reflektierbar werden (vgl. Bromme 2014).
    Des Weiteren wird durch das Framing das nötige theoretische Fundament gebildet, das die fachlich relevanten Beschreibungskategorien sowie das entsprechende Vokabular zur Verfügung stellt, um das erlebte Moment adäquat, d. h. fachdidaktisch orientiert, zu beschreiben, reflektiert zu durchdenken und theoriebasiert erklären zu können (vgl. Blömeke 2002).
    In den universitären Lehrveranstaltungen im Rahmen der fachlichen Praxisprojekte dienen die Seminarsitzungen, die den Praxisphasen in Kooperationsschulen vorgeschaltet sind, dem Framing. Innerhalb dieser setzen sich die Studierenden mit fachwissenschaftlichen und -didaktischen Theorien und Konzepten zum fachlichen Textverstehen auseinander, die besonders im Kontext fachlicher Kompetenzentwicklung Fragen nach geeigneten Fördermaßnahmen und Vermittlungsstrategien aufwerfen.

  • (2) Bedeutsames Moment (Primärerfahrung)

    Bezugspunkt der Reflexion ist das subjektiv bedeutsame Moment. Ein solches Moment, dessen subjektive Bedeutsamkeit in der Professionsforschung insbesondere vor dem Hintergrund motivationaler und volitionaler Aspekte diskutiert wird (vgl. Combe 2010; Košinár 2014; 2017), ist eine persönlich erlebte Erfahrung. Diese kann ein Zweifeln, ein Zögern, eine Irritation (vgl. Dewey 1933), einen „Spannungszustand zwischen Nicht-Können und Können, zwischen Nicht-Wissen und Wissen“ (Combe & Gebhard 2007, S. 48) auslösen, der wiederum eine Fragehaltung provoziert und dazu führt, das ‚Problem‘ lösen zu wollen (Dewey 1933).
    Im Projektrahmen konkretisieren sich diese Erfahrungen der Studierenden in den Dimensionen des eigenen unterrichtlichen Handelns im Kontext der Vermittlung fachlich profilierter Lesestrategien einerseits und in der Wahrnehmung möglicher individueller Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler beim Bearbeiten einer gestellten Leseanforderung andererseits.
    Vor diesem Hintergrund, so lässt sich folgern, ist nicht allein die subjektive Bedeutsamkeit des Moments, sondern vor allem dessen fachdidaktische Relevanz hinsichtlich der Planung und der Vermittlung fachspezifischer Lesestrategien entscheidend. Auch wenn grundsätzlich mitunter allgemein-pädagogische Praxiserfahrungen professionsrelevant sein können, ist das Kriterium der Fachlichkeit des Moments im Kontext des Projekts unabdingbar, da sie eine theoriegeleitete Praxisreflexion erst ermöglicht.

  • (3) Beschreiben

    Während das Framing der eigentlichen Reflexion vorgelagert bzw. begleitend vollzogen wird und die Auswahl des subjektiv bedeutsamen und reflexionsrelevanten Moments den Ausgangspunkt der Reflexion bildet, ist das Beschreiben des gewählten Moments der erste Schritt des Reflexionsprozesses selbst (und somit auch oftmals des schriftlichen Reflexionsberichts). Das Beschreiben hat einen strikt deskriptiven Charakter und erfordert eine genaue und detaillierte Darstellung der das Moment umgebenene Situation unter Einbezug aller relevanten Einflussfaktoren. Dazu zählen etwa die Beschreibung der an der Situation beteiligten Personen, der fachlich-kommunikativen Handlungen, die Verortung der Situation im didaktischen Kontext, d. h. innerhalb der Unterrichtsreihe und der Unterrichtsstunde, sowie die Explikation der Unterrichtsmethode usw.
    Das Beschreiben soll dabei jedoch nicht etwa ein erneutes Erleben des Moments provozieren, sondern erstens eine nachgelagerte Um- oder Neustrukturierung des Wahrgenommenen initiieren (vgl. Klotz 2013), zweitens durch Abkopplung vom Erklären dem vorschnellen Bewerten und Urteilen entgegenwirken (vgl. Boud & Walker 1985) und drittens eine größere Distanz zum erlebten Moment herstellen. Damit schafft das Beschreiben nicht nur eine Basis für die weitere reflexive Auseinandersetzung mit dem erlebten Moment, sondern besitzt bereits selbst heuristisches Potenzial (vgl. Gibbs 1988; Bain et al. 2002; Korthagen & Vasalos 2005; Aeppli & Lötscher 2016).

  • (4) Erklären (Sekundärerfahrung)

    Dem Beschreiben nachgelagert, erfolgt das Erklären des Moments. Unter Erklären wird dabei die Analyse des zu reflektierenden Moments vor dem Hintergrund theoretisch-konzeptionellen Wissens verstanden (attending to our theories; Schön 1987). Ziel ist die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Moment, indem die einzelnen Faktoren, die dieses Moment bedingen, fachwissenschaftlich und -didaktisch verortet, begründet und damit objektiviert und abstrahiert werden.
    Hier nimmt also das Framing entscheidenden Einfluss: Denn das aus dem jeweiligen Seminar erworbene Wissen und die Kenntnisse über Theorien und Konzepte dienen als Grundlage für die Erklärung von Ursachen für Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler im Umgang mit den jeweiligen Fachtexten, der Analyse von Lernvoraussetzungen und der eigenen didaktischen Handlungsmöglichkeiten. Erst das theoriebasierte Erklären lässt es zu, Hypothesen über mögliche Ursachen und Gründe aufzustellen, Deutungsoptionen zu erarbeiten und das Moment sowie die eigene Planung und unterrichtliche Handlung begründet zu bewerten. Damit wird die ursprüngliche Primärerfahrung zu einer reflektierten Sekundärerfahrung.
    Die Anbindung der Primärerfahrung an die theoretischen Inhalte des Framings ist dabei ein wechselseitiger Prozess. So kann die beobachtete und / oder erlebte Praxissituation auch dazu führen, Aspekte der Theorie begründet zu aktualisieren und anzupassen. Auf diese Weise leisten die Praxisphasen und ihre Reflexion auch einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung der spezifischen Inhalte des fachlichen Framings.

  • (5) Handlungsalternativen formulieren und ggf. erneutes Erproben

    Auf der Basis der umfassenden Erklärung des Moments und der erarbeiteten Hypothesen ihres Zustandekommens werden anschließend elaborierte, das heißt vor allem auch theoretisch begründete, Handlungsalternativen formuliert (vgl. Gibbs 1988). Diese Handlungsalternativen müssen jedoch erstens nicht unbedingt ‚bessere‘ Möglichkeiten darstellen (wenn z. B. die Analyse des Moments ergab, dass die situativ vollzogene Handlung grundsätzlich adäquat war), und sie müssen sich zweitens nicht ausschließlich unmittelbar auf die Handlung(en) der Lehrenden innerhalb des Moments beziehen, sondern können auch Handlungen der dem eigentlichen Moment vorgelagerten Planung des Lernangebotes beschreiben.
    Die formulierten Handlungsalternativen können dann in eine erneute Erprobung (Trial) münden, wodurch der zyklisch angelegte Reflexionsprozess von vorn beginnt (vgl. Korthagen & Vasalos 2005).
    Durch die Struktur und Organisation der universitären Lehrveranstaltungen im Rahmen der Praxisprojekte ergibt sich für die Studierenden jedoch nur in Ausnahmefällen die Möglichkeit, im Anschluss an die Reflexion der Primärerfahrungen erneute Praxiserfahrungen zu machen und ein vergleichbares Moment noch einmal zu erleben, um mögliche Handlungsalternativen zu erproben. Doch auch ohne die Möglichkeit der erneuten Erfahrung lässt sich als Mehrwert der theoriebasierten Praxisreflexion für den Professionalisierungsprozess angehender Lehrkräfte die Anbahnung einer reflexiven Grundhaltung festhalten, die sich durch die Meta-Reflexion noch verstärken lässt.

  • (6) Meta-Reflexion (Reflexion zweiter Ordnung)

    Unter Meta-Reflexion bzw. der Reflexion zweiter Ordnung (vgl. Feindt & Broszio 2008) wird das bewusste Durchdenken des gesamten und auf die eigentliche Praxiserfahrung bezogenen Reflexionsprozesses sowie seiner einzelnen Teilschritte verstanden, durch die die eigene Reflexionstätigkeit nicht nur ins Bewusstsein gehoben, sondern auch evaluiert wird. Durch die Verbindung der Erkenntnisse aus der reflektierten Sekundärerfahrung (Reflexion erster Ordnung) mit denen der meta-reflexiven Prozesse (Reflexion zweiter Ordnung) wird die Ausbildung einer reflexiven Grundhaltung als meta-skill der reflektierten Praktikerin bzw. des reflektierten Praktikers (vgl. Schön 1987) begünstigt.
    Im Projektkontext wird die Meta-Reflexion von Beginn an angebahnt, indem die einzelnen Prozessschritte der Reflexion erster Ordnung explizit angeleitet und diskursiv verhandelt werden.
    Außerdem werden die auf Basis des ProRefits-Modells entstandenen Reflexionsberichte in den Reflexionssitzungen, an denen die Studierenden, die Seminarverantwortlichen sowie idealerweise auch die schulischen Lehrkräfte teilnehmen, präsentiert, diskutiert und bewertet. Es findet also abschließend ein multiperspektivischer Austausch über die Praxiserfahrung an sich, aber auch über die Reflexionsprozesse der Studierenden statt.
    Der theoriebasierten Entwicklung und dem Einsatz des hier vorgestellten Reflexionsmodells liegen die Annahmen zugrunde, dass erstens durch die Einhaltung der angegebenen Schrittigkeit, zweitens durch die qualitative Ausgestaltung der einzelnen Schritte in den Reflexionsberichten und drittens durch die Meta-Reflexion des Prozesses eine effektive Anbahnung von Reflexionskompetenz gelingen kann.

Fachliche Profilierung des ProRefiT-Modells

Das skizzierte Modell bildet zunächst eine überfachliche, theoriebasierte Grundlage für die darauf aufbauende fachliche Profilierung des Reflexionsprozesses durch die Fachprojekte. Diese erstellen auf Basis des Modells fachspezifische Reflexionsleitfäden, welche dem jeweiligen Reflexionsfokus und dem Erkenntnisinteresse des Fachprojekts gerecht werden.

Diese Leitfäden bilden dann die Grundlage für studentische Reflexionsprodukte, deren genaue Ausgestaltung durch die Seminar- und / oder Modulordnungen genauer festgelegt ist. Solche Produkte können z. B. Reflexionsplakate sein, die den Reflexionsprozess der Studierenden clustern und durch grafische Elemente unterfüttern, ebenso aber auch schriftliche Hausarbeiten.