GEDÄCHTNIS: Epidemien, ihre Opfer und die Erinnerung

Dossier "Epidemien. Kulturwissenschaftliche Ansichten"

© Governo Italiano (CC BY-NC-SA 3.0 IT), privat, Milion chvilek pro demokracii, internationales literaturfestival berlin

Epidemien oder gar Pandemien sind stets traumatische Ereignisse im Erinnerungshaushalt betroffener Menschen, Familien oder Gesellschaften. Spätestens wenn sich ein Ende der Krise abzuzeichnen beginnt, stellt sich die Frage nach Formen künftiger Erinnerung an das dann vergangene Geschehen. Mehrere Länder haben bereits Akzente gesetzt: In Washington D.C. wurden am Vorabend der Inauguration von Präsident Biden 400 Laternen am Reflecting Pool vor dem Lincoln Monument entzündet – eine für je 1.000 US-amerikanische Pandemieopfer. In Italien wurde gar ein jährlicher Gedenktag eingeführt und dafür der 18. März bestimmt – jener Tag, an dem in Bergamo eine Kolonne von 70 Militärtransportern die Särge von hunderten Toten aus der Stadt brachten, weil das dortige Krematorium überlastet war. Diese und andere Beispiele – etwa das Lichterherz auf dem Münsteraner Domplatz am bundesweiten Corona-Gedenktag am 18. April 2021 – werfen die Frage auf, wie Gesellschaften, gesellschaftliche Gruppen, Institutionen oder auch Individuen mit dem Gedenken an Epidemien und ihre Opfer umgegangen sind und umgehen. 

© Milion chvilek pro demokracii

„Eine Regierung vereitelter Leben“. Corona-Gedenken und Protestkultur am Altstädter Ring in Prag, März 2021. Von Kunsthistoriker Prof. Dr. Jens Niebaum

Am 22. März 2021 wurden auf dem Altstädter Ring (Staroměstské náměstí) in Prag rings um die kurz zuvor wiedererrichtete Mariensäule mit abwaschbarem Spray in Weiß 25.000 Kreuze auf das Pflaster gezeichnet (Abb. 1, 2). Urheberin der Aktion, die den Titel „Eine Regierung vereitelter Leben“ („Vláda zmařených životů“) trug, war Milion chvilek pro demokracii („Eine Million Augenblicke für die Demokratie“), eine Gruppe von Aktivisten, die sich 2018 aus Protesten gegen den tschechischen Regierungschef Andrej Babiš konstituiert hatte.  Weiterlesen

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Zurück zu welcher Zukunft? – Erinnern und Gedenken inmitten der Pandemie. Von Historiker Matthias Sandberg

Erinnern und Gedenken ordnen Erlebtes nicht nur in Gestalt individueller Erfahrungen und persönlicher Perspektiven, sondern bieten ganzen Gesellschaften in Form des kollektiven Gedächtnisses einen Referenzrahmen zur Einordnung historischer Erfahrung. Doch wenngleich sich auch die Praktiken des Erinnerns und des Gedenkens aus erlebter Vergangenheit speisen, zielen beide Formen auf eine Vergegenwärtigung historischer Wissensbestände. Weiterlesen

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Gedichte gegen das Vergessen. Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf

Seit Beginn der Corona-Pandemie werden wir mit Zahlen konfrontiert: Infizierte, ,mit oder an‘ Corona Gestorbene, Inzidenzwerte. Gebannt schauen wir auf steigende oder fallende Zahlen, wie sie täglich vom Robert Koch-Institut veröffentlicht werden. Wenn in Washington am Reflecting Pool vor dem Lincoln Monument eine Laterne für 1000 Opfer entzündet wurde, ist das allenfalls ein hilfloser Versuch, die erschreckend abstrakten und anonymen Zahlen wenigstens auf ein überschaubares Maß herunterzubrechen. Weiterlesen

© Governo Italiano (CC BY-NC-SA 3.0 IT)

Erinnerung – Trost – Kritik: Beiträge der Literatur zur Krisenbewältigung. Von Literaturwissenschaftlerin PD Dr. Pia Claudia Doering

Auf dem Friedhof von Bergamo, jener Stadt in der Lombardei, die, wie Mario Draghi anlässlich des ersten nationalen Gedenktages formulierte, „Symbol für den Schmerz einer ganzen Nation“ ist, erinnert ein marmorner Gedenkstein in Form eines Buches an die Opfer der Corona-Pandemie. Darin eingraviert ist das Gedicht „Tu ci sei“ („Du bist hier“) des Schriftstellers und katholischen Aktivisten Ernesto Olivero. In seiner repräsentativen Darstellung stiftet das Gedicht Erinnerung. Es fasst das spezifische Leid in Worte, das durch die Pandemie hervorgebracht wird.  Weiterlesen