„Eine Regierung vereitelter Leben“

Corona-Gedenken und Protestkultur am Altstädter Ring in Prag, März 2021

Von Kunsthistoriker Prof. Dr. Jens Niebaum

Abbildungen

Abb. 1: Prag, Altstädter Ring von Norden während des Aufsprühens der Kreuze am 22. März 2021
Abb. 1: Prag, Altstädter Ring von Norden während des Aufsprühens der Kreuze am 22. März 2021
© Milion chvilek pro demokracii
  • Abb. 2: Prag, Altstädter Ring aus der Luft mit den aufgesprühten Kreuzen am 22. März 2021
    © Tomáš Štěrba
  • Abb. 3: Prag, Mariensäule von West-Nord-Westen
    © Jindřich Eckert
  • Abb. 4: Prag, Statue der Immaculata auf der wiedererrichteten Mariensäule mit dem Giebel der Teynkirche nach der Neuaufstellung des utraquistischen Kelchsymbols im Hintergrund
    © Gampe, CC BY-SA 4.0
  • Abb. 5: Prag, Pflaster vor dem Altstädter Rathaus mit Denkmal für die Opfer des Prager Blutgerichts
    © Bruce McKinlay, CC BY-NC-ND 2.0
  • Abb. 6: Prag, Kreuze zum Gedächtnis an die Opfer des Blutgerichts im Pflaster vor dem Altstädter Rathaus
    © Christian Bredfeldt, CC BY-NC-ND 2.0

Am 22. März 2021 wurden auf dem Altstädter Ring (Staroměstské náměstí) in Prag rings um die kurz zuvor wiedererrichtete Mariensäule mit abwaschbarem Spray in Weiß 25.000 Kreuze auf das Pflaster gezeichnet (Abb. 1, 2). Urheberin der Aktion, die den Titel „Eine Regierung vereitelter Leben“ („Vláda zmařených životů“) trug, war Milion chvilek pro demokracii („Eine Million Augenblicke für die Demokratie“), eine Gruppe von Aktivisten, die sich 2018 aus Protesten gegen den tschechischen Regierungschef Andrej Babiš konstituiert hatte, gegen den u.a. Vorwürfe des Subventionsbetrugs und der früheren Mitarbeit bei der tschechoslowakischen Staatssicherheit im Raume standen. Das Datum des 22. März markierte den Jahrestag des ersten Todesfalls der Covid-19-Pandemie in der Tschechischen Republik, und die Anzahl der Kreuze ergab sich aus der Anzahl derjenigen Tschechen, die in diesem Zeitraum an der Krankheit gestorben waren. Gerade im Frühjahr 2021 wütete das Virus im Land besonders heftig; Tschechien war damals zeitweise der Staat mit der höchsten Covid-Todesrate weltweit. Für Milion chvilek verband sich in den Kreuzen das Gedächtnis der Toten mit einer Kritik an der Regierung Babiš, der sie – ebenso wie viele Experten – Versagen und Ignoranz angesichts der dramatischen Lage vorwarfen. Begleitet wurde das Event u.a. von dem Aufruf an alle Menschen im Land, Erinnerung und Protest durch Aufzeichnung eines Kreuzes auf ihrer Atemschutzmaske ins ganze Land zu tragen, sowie von einer Schweigeminute, die eine Gruppe um den ehemaligen Dissidenten und späteren Diplomaten Petr Pospíchal initiiert hatte. Die ephemere Gedenkstätte – die Initiatoren hatten zugesagt, die Kreuze auf dem Platz am Abend des 22. März wieder zu tilgen, doch beließ die Stadt sie in situ, bis der Regen sie abwusch – entfaltete eine beträchtliche Sogkraft: Zahlreiche Trauernde fanden sich ein, um die Namen verstorbener Angehöriger und Freunde neben die Kreuze zu schreiben, Blumen niederzulegen und Kerzen anzuzünden. Auch nicht unmittelbar Betroffene kamen, um ihrer erkrankten oder verstorbenen Mitbürger zu gedenken. Offenkundig hatte Milion chvilek mit der Aktion einen Nerv getroffen. Doch warum gerade dieses Symbol, und warum gerade auf diesem Platz?

Der Altstädter Ring ist ein in mehrfacher Hinsicht bedeutungsgeladener Ort. Die Mariensäule, um die sich die Kreide-Kreuze wie ein Teppich erstreckten, war zwischen Februar und Juni – also während die Pandemie bereits wütete – errichtet und am 15. August 2020, dem Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, vom Prager Erzbischof geweiht worden. Es handelt sich um die möglichst getreue Rekonstruktion eines Monumentes, das Kaiser Ferdinand III. 1650 hatte errichten lassen, um an die Abwehr der schwedischen Belagerung der Prager Altstadt im Oktober 1648 zu erinnern (Abb. 3). Die Säule war an der Stelle entstanden, an der 1632 Soldaten aus dem lutherischen Kursachsen nach der Eroberung Prags das als Palladium der böhmischen Länder hochverehrte Marienbild von Altbunzlau verspottet hatten, indem sie es unter einem Galgen an einen Pranger genagelt hatten. Die Mariensäule inszenierte nun den Sieg der, so die Sockelinschrift, unbefleckt Empfangenen (SINE ORIGINIS LABE CONCEPTÆ), durch deren Schutz die Stadt dem erneuten Ansturm protestantischer Feinde standgehalten hatte. Zugleich wurde Maria mit der Säule eine Beschützerrolle für die Sache der katholischen Habsburger zugeschrieben, die der schon von Ferdinand II. beschworenen Rolle der Muttergottes als ‚Generalissima‘ seiner Heere entsprach. Aus ähnlichem Anlaß hatte Ferdinand III. bereits 1645-47 die Mariensäule Am Hof in Wien errichten lassen. Diesen Monumenten kam mit der religiösen auch eine dezidiert herrschaftsstabilisierende Funktion zu, lief ihre Errichtung doch letztlich auf die Behauptung hinaus, daß Maria, die wichtigste Fürsprecherin der Menschheit bei Christus, und mithin Gott selbst an der Seite ihres Stifters stand.

In der raumzeitlichen Konstellation Prags am Ende des Dreißigjährigen Krieges bedeutete dies freilich auch, daß sie die Niederschlagung des Böhmischen Aufstandes nach der Schlacht am Weißen Berg (1620), die kompromißlose Rekatholisierungspolitik der Habsburger, die zahlreiche protestantische Adlige um ihre Güter brachte und aus dem Land trieb, sowie die Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Königs und zulasten der Stände in der „Vernewerten Landes-Ordnung“ von 1627 symbolisch mitsanktionierte. Hinzu kam, daß die monumentale Pfarrkirche St. Maria vor dem Teyn, die sich hinter der Säule an der Ostflanke des Platzes erhebt, die Hauptkirche der utraquistischen Bewegung gewesen war, wovon in ihrem Giebel eine Statue des ‚Hussitenkönigs‘ Georg Podiebrad sowie ein vergoldeter Kelch mit Hostie kündeten; sie wurden 1623 entfernt und später durch eine Madonna ersetzt, deren vergoldeter Strahlenkranz aus dem Material des Kelchs gefertigt wurde (ein neuer Kelch wurde im Februar 2018 als ökumenische Geste auf Beschluß der tschechischen Bischofskonferenz unter der Madonna in jener Nische aufgestellt, die einst die Königsstatue beherbergt hatte; Abb. 4). Kurz: Religiös-Konfessionelles und Politisches waren im Säulenmonument und seinem Umraum aufs engste miteinander verflochten.

So ist es kaum verwunderlich, daß der Altstädter Ring und die Mariensäule in der Spätphase der habsburgischen Donau-Monarchie ins Zentrum der Aufmerksamkeit tschechischer Nationalisten rückten. 1903-15 wurde nach jahrzehntelangen Kontroversen im Nordosten des Platzes das monumentale, von Ladislav Šaloun entworfene Denkmal für Jan Hus errichtet – pünktlich zum 500. Todestag des böhmischen Reformpredigers, der trotz der Zusicherung freien Geleits durch König Sigismund auf dem Konstanzer Konzil verbrannt worden war. Hus hatte in der Messe die Umgangssprache benutzt und war seit 1890 zunehmend in die Rolle einer zentralen Identifikationsfigur der tschechischen Unabhängigkeitsbewegung hineingewachsen. Nach der Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik 1918 wurde die Mariensäule von einer Gruppe radikaler Nationalisten gestürzt. Die Frage einer möglichen Wiederherstellung wurde in den folgenden gut hundert Jahren immer wieder aufgebracht und kontrovers diskutiert, bevor der Stadtrat, der das Projekt 2017 noch abgelehnt hatte, im Januar 2020 die Genehmigung erteilte.

Es wird vor dem Hintergrund der hier skizzierten Geschichte deutlich, daß der Platz und die Säule eine lange Tradition als Ort der Manifestation von Protest gegen Regierungen des Landes besaßen. Hinzu kommt, daß sie während der schweren Pestepidemie von 1713 bereits Ziel von Prozessionen und Andachten gewesen war. Der weitaus größere Teil jener Säulenmonumente, die insbesondere in den habsburgischen Ländern zu Ehren der Dreifaltigkeit, Marias oder eines anderen Heiligen errichtet wurden, waren Denkmäler des mit Hilfe Gottes und Fürsprache der Heiligen erwirkten Triumphes über die Pest. Dazu gehört auch die Mariensäule in Brünn, die 1679-83 zum Dank für die Abwendung der Pest von 1679 auf dem Großen Platz (heute Freiheitsplatz/Náměstí Svobody) errichtet wurde und vor der am 22. März 2021 eine ähnliche Aktion stattfand. Insofern markiert auch die Nutzung der Prager Mariensäule als Gedächtnismal der Pandemieopfer, ähnlich wie ihre Wiedererrichtung selbst, eine Anknüpfung an die Geschichte des Monumentes und seines Ortes – nur eben mit einem sehr wichtigen Unterschied: Denn während es im 17./18. Jahrhundert die Regierenden selbst waren, die diese Monumente errichten ließen und nicht zuletzt durch sie das Moment der Krise in eines der Stabilisierung umzudeuten wußten, waren es nun regierungskritische Aktivisten, die sie als Folie ihres Protestes nutzten.

Doch auch die weißen Kreuze auf dem Pflaster des Altstädter Rings selbst haben, wie es scheint, eine Symbolik, die mit den hier skizzierten Hintergründen der Entstehung der (ersten) Mariensäule zu tun hat. Denn nur wenige Meter weiter westlich, unmittelbar vor dem Turm des Altstädter Rathauses, der Teynkirche gegenüberliegend, sind insgesamt 27 weiße Kreuze in das Pflaster des Platzes eingelassen. Sie erinnern an das sog. Prager Blutgericht, bei dem am 21. Juni 1621 siebenundzwanzig Adlige und Bürger als angebliche Rädelsführer des böhmischen Aufstandes hingerichtet wurden. Die Markierungen wurden 1904 an der Stelle, wo das Schafott gestanden hatte, in das Pflaster eingelassen (Abb. 5, 6). Gemeinsam mit einer bronzenen Tafel, die 1911 am Rathaus angebracht wurde und die Namen der Getöteten nennt, bildeten sie gleichsam das Vorspiel zum Sturz der Mariensäule in der tschechisch-nationalen Resemantisierung des Platzes und seiner Geschichte. Die Analogien reichen bis zur Gleichung ‚ein Kreuz – ein Todesopfer‘.

Erst vor diesem Hintergrund wird die subversive Wucht der Aktion von Milion chvilek recht verständlich. Bereits Anfang Juni 2020 hatte die Gruppe im Rahmen einer Demonstration gegen die Regierung kleine Kreuze als Markierung von Standplätzen mit ausreichend Abstand auf das Pflaster des Altstädter Rings gesprüht. Sie konnten, wie der Bericht der Zeitung Deník N zeigte, in Anknüpfung an die Kreuze für die hingerichteten Protestanten als Verweis auf weitere Protestierende verstanden werden (https://denikn.cz/377152/obrazova-glosa-proti-vlade-se-v-praze-protestovalo-v-ukaznenem-siku-ktery-by-potesil-i-plukovnika-prymulu/). Im Kontext der Aktion vom 22. März 2021 läuft die Analogie noch prägnanter darauf hinaus, eine Parallele zwischen den tschechischen Opfern der Pandemie und denen der habsburgischen Unrechtsjustiz von 1621 herzustellen. Damit aber werden die Corona-Toten ihrerseits als Opfer einer Regierung gekennzeichnet, die in erster Linie die eigenen Belange und den eigenen Fortbestand im Blick gehabt habe: „Es hätte vielleicht nicht so viele unnötig verlorene Leben unserer Nächsten gegeben, wenn die Regierung ihre Interessen nicht über die Interessen der Bürger gestellt hätte,“ so eine Pressemitteilung von Milion chvilek.

Die Kreuze vom 22. März 2021 sind längst verschwunden. Doch der aus einer politischen Protestaktion erwachsene Gedächtnisort hat sich gleichsam verselbständigt: Es sind nun einzelne Personen, die aus eigener Initiative Kreuze auf das Pflaster zeichnen, um an jene Angehörigen zu erinnern, die an Covid-19 verstorben sind. Es bleibt abzuwarten, ob die Nutzung als Erinnerungsort an ein kollektives Trauma auch über das Ende der Pandemie hinaus Verstetigung erfahren wird und ob sie die Gräben, die der Nachbau der Mariensäule in der Gesellschaft aufgerissen hat, langfristig zu überbrücken vermag.

Zur Geschichte der Prager Mariensäule und ihrem Platz liegt inzwischen eine sehr umfangreiche Literatur vor. Hier sei nur verwiesen auf: Robert Born, „Marien- und Dreifaltigkeitssäulen“, in: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitutionen und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, hg. v. Joachim Bahlcke, Stefan Rohdewald u. Thomas Wunsch, Berlin 2013, 396–409; Cynthia Paces, „The Fall and Rise of Prague’s Marian Column“, Radical History Review 79 (2001), 141-155; Vít Vlnas, „Mariánský sloup a jeho náměstí (poznámky o smyslu a místě), in: Zprávy památkove péče 75 (2015), 219-226; sowie den jüngst erschienenen Band Mariánský sloup na Staroměstském náměstí v Praze. Počátky rekatolizace v Čechách v 17. století, hg. v. Ondřrj Jakubec u. Pavel Suchánek, Prag 2020 (mit englischem Resumé). Vgl. auch den sehr gründlich recherchierten und mit zahlreichen Digitalisaten wissenschaftlicher Beiträge verlinkten Eintrag „Mariánský sloup (Staroměstské náměstí) in der tschechischen Wikipedia. – Für Auskünfte und Unterstützung danke ich Kristina Jochmannová von Milion chvilek pro demokracii (Prag), und Vít Kortus (Bonn).