Unde malum? Die Topographie der Seuche

Von Historikerin Katharina Wolff

Joseph Grünpeck Tractatus de pestilentiali scorra sive mala de Franzos, Augsburg 1496, 4 Inc.s.a. 930, fol. a1 recto
© Bayerische Staatsbibliothek München

Seitdem Mensch und Seuche aufeinandertreffen und dies irgendeinen Niederschlag in Kunst oder Historiographie findet, seitdem wird die Frage gestellt: Woher? Bereits der als Vater der Geschichtsschreibung geltende Athener Stratege Thukydides berichtete von der sogenannten „Attischen Seuche“ oder „Pest des Thukydides“. Diese Epidemie brach im Frühsommer des Jahres 430 v. Chr. in Athen aus und befiel auch Thukydides selbst. Wie viele andere Historiographen nach ihm stellte er Überlegungen zu Herkunft und Natur der Krankheit an, beschrieb ihre Symptome und die Reaktionen der Menschen auf die Katastrophe: „Als sie [die Peloponnesier, Anm. d. Verf.] erst wenige Tage in Attika standen, brach zum ersten Mal in Athen die Seuche aus; sie soll früher schon an vielen Orten, bei Lemnos und in anderen Gegenden, aufgetreten sein, aber nie wurde eine solche Pest, ein solches Massensterben berichtet.“ Die Fragen nach der Herkunft dieser ersten Seuche der Geschichtsschreibung behandelte Thukydides im geographischen Sinn: Er benannte zunächst griechische Orte, an denen man bereits Erfahrungen mit dieser Krankheit gesammelt hatte. Wie später in manch mittelalterlicher Darstellung lässt Thukydides den Blick schweifen und verfolgt die Krankheit noch weiter zurück, auf ihrem Weg nach Athen: „Sie soll ihren Ausgang in Äthiopien oberhalb Ägyptens genommen haben, dann stieg sie nach Ägypten und Libyen hinab und in weite Gebiete des Großkönigs. In Athen fiel sie plötzlich ein, zuerst ergriff sie die Menschen in Piräus“

Auch mittelalterliche Seuchenbeschreibungen fragten nach dem Woher des Übels, wie etwa der Kaufmann Matteo Villani, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts in der Florentiner Chronik den Weg der Pest aus weit entfernten Ländern bis nach Italien verfolgte: „Die Pest kam in Schüben und erfaßte Volk für Volk und innerhalb eines Jahres ein Drittel der Region, die man Asien nennt. Und zuletzt erreichte sie die Völker des Schwarzen Meeres und die Ufer des Meeres in Syrien, der Türkei und Ägypten, ferner die Küsten des Roten Meeres und im Norden Rußland, Griechenland und Armenien sowie die sich anschließenden Provinzen. Damals verließen Galeeren aus Italien das Schwarze Meer, Syrien und das Gebiet von Byzanz, um dem Tod zu entfliehen, und sie brachten ihre Waren nach Italien. Doch es war nicht mehr zu verhindern, daß ein großer Teil [der Besatzung] bereits auf hoher See an der Seuche starb. Als sie in Sizilien eintrafen, sprachen die Seeleute mit den Bauern und steckten viele von diesen an.“ Herkunftsräume von Epidemien blieben durch die Zeiten ein Thema, so auch als im Jahr 1493 die sehr wahrscheinlich aus Amerika importierte Syphilis Europa überrollte. Man nannte sie am einen Ort Neapolitanische Krankheit, am anderen Ort Franzosenkrankheit, je nachdem, wo man dachte, dass das Übel seinen Anfang genommen hatte.

Die Zeiten ändern sich, doch manche Anliegen der Betroffenen im Angesicht einer Seuche kehren immer wieder. Wohin man blickt: Der Ausgangsort, und sei er auch hypothetisch, stellte häufig den Namen des Übels, Raum und Ort einer Seuche gerieten zum vermeintlichen Qualitätsmerkmal. Dabei führten die Benennungen häufig in die Irre: Die Spanische Grippe brach nicht erst in Spanien aus, die Russische Grippe begann in Asien. 1976 benannte man ein erstmals isoliertes Fadenvirus „Ebola“, nach einem Fluss in jener Gegend, die man für den Ausgangsort der Erkrankung hielt, von der in jenem Jahr 318 offizielle Fälle gemeldet wurden, von denen 280, also 88%, verstarben. 1977 isolierte man das Hantavirus, benannt nach einem südkoreanischen Fluss, an dessen Ufern die Erkrankung erstmals dokumentiert wurde. Noch 2012, als MERS allem auf der arabischen Halbinsel grassierte, erhielt die Erkrankung einen ortsbezogenen Namen: Middle East Respiratory Syndrome. Als die Corona-Pandemie im Frühjahr vom chinesischen Wuhan aus begann, die Welt zu überrollen, da hieß U. S.-Präsident Donald Trump das Virus „ausländisch“ oder „chinesisch“. Diese Zuweisungen führten in den ersten Wochen der sich entwickelnden Pandemie noch zu Diskriminierung, doch dort, wo COVID-19 nun aufgetreten und gegenwärtig ist, sind lokale Zuweisungen nachrangig geworden. Die WHO-Richtlinie zur Vergabe neuer Krankheitsnamen verbietet solches schließlich seit 2015: Krankheitsnamen dürfen nunmehr keine Ortsangabe, Personennamen (vorbei die Zeiten von Morbus Pfeiffer oder Hodgkin-Lymphom), keine vermeintlich oder tatsächlich involvierte Spezies (Schweinegrippe oder Affenpocken), keine kulturelle, soziale oder ethnische Gruppe (HIV anfangs als „Schwulenpest“, Legionellose als „Veteranenkrankheit“, exogene allergische Alveolitis als „Paprikaspalterlunge“) und keine ängstigenden Begriffe („unbekannt“, „Tod“, „tödlich“, selbst „epidemisch“ soll nicht mehr verwendet werden).

So geriet im Jahr 2020 ein sperriges Konstrukt wie „COVID-19“ in aller Munde, das nichts über geographische Herkunft, Reservoir, Risikogruppen, Entdecker oder Krankheitsverlauf verrät, in seiner Benennung also raum- oder heimatlos bleibt und im Moment doch in den meisten Ländern der Welt präsent ist.