Keine Masken, aber Magie – magische Papyri als Schutz vor Krankheit

Von Historiker Matthias Sandberg

Die gegenwärtige, teilweise emotionalisiert geführte Debatte um das Für und Wider des Tragens von Masken als Schutzmaßnahme gegen eine uneingeschränkte pandemische Verbreitung des Covid-19-Erregers berührt die Frage nach dem Stellenwert von Solidarität und solidarischem Handeln innerhalb der Gesellschaft. Werte, Normen und Regeln kollektiven Miteinanders in Zeiten der Pandemie, wie etwa die Ahndung der Nicht-Einhaltung der AHA-Formel, werden bisweilen als unzulässige Repressalien und als ungerechtfertigter Angriff obrigkeitsstaatlicher Autorität auf individuelle Freiheitsrechte gedeutet. Die Einsicht, dass Eigen- und Fremdschutz reziprozitär miteinander verbunden sind, scheint längst nicht bei allen angekommen.

Dass solidarisches Handeln in Anbetracht der unsichtbaren Bedrohung kein gesamtgesellschaftlicher Automatismus ist, dass eine differenzierte Abwägung zwischen individuellen und kollektiven Bedürfnissen nicht immer leichtfällt, schmerzlich sein kann, davon berichtete bereits der athenische Historiker Thukydides, der über die Pest in Athen (430-426 v. Chr.) schrieb:

Das Schrecklichste an der ganzen Misere war aber die Verzweiflung, sobald einer spürte, dass er krank war (denn da sie innerlich sofort jede Hoffnung verloren, gaben sie sich umso mehr auf und hatten der Krankheit nichts entgegenzusetzen), sowie die Tatsache, dass sie, der eine infolge der Pflege des anderen angesteckt, wie das Herdenvieh dahinstarben; das war Hauptursache für die hohe Zahl der Toten. Entweder nämlich man unterließ es aus Angst lieber, zu einander zu gehen, so starben die Menschen eben alleine, und viele Häuser leerten sich mangels eines zur Pflege bereiten Helfers; oder aber man ging hin, so holte man sich dort den Tod, und besonders diejenigen, denen an Anstand und Ehre gelegen war; denn ohne Rücksicht auf sich selbst besuchten sie ihre Freunde – sie hätten sich sonst geschämt – während am Ende selbst die Verwandten, zerbrochen an all dem Leid und Elend, nicht mehr die Kraft hatten, auch nur die Beklagung der Dahingeschiedenen ordentlich auszuführen. (P. Landmann)

Es drängt sich die Frage danach auf, ob sich auch in der Polis Athen energischer Widerstand gegen das Tragen von Masken gerührt hätte. Doch dazu gab es keinen Anlass: Wenngleich auch die hippokratische Medizin aus dem Boden dringende, üble Dünste, das μίασμα, und dessen Verbreitung über die Luft als ursächlich für verschiedene Krankheiten bezeichnet hatte, lässt sich das Tragen von Masken zur Vermeidung von Ansteckung für die Alte Welt nicht belegen. Die Gesellschaften der Antike setzen auf andere Maßnahmen, was auch damit zu begründen ist, dass Krankheits- und Seuchen¬erscheinungen in der Antike stets transzendente Qualitäten zugeschrieben wurden. Neben der Isolation von Kranken im Seuchenfall kam es daher vor Allem auch auf die Sicherung individuellen Wohlergehens durch göttlichen Beistand an. Daher waren medizinische und magische Praktiken nicht selten miteinander verwoben: So finden sich individuelle Schutzzauber und Anrufungen von Göttern in Amuletten, denen eine apotropäische, d.h. Unheil abwehrende Wirkung zugeschrieben wurde; die TrägerInnen versprachen sich davon magischen Schutz, die Ablenkung von bösen Geistern (δαίμονες) oder dem ‚bösen Blick‘, die nicht selten als Urheber von Krankheit und Leid galten.

Medizinisch-magische Amulette wurden entweder prophylaktisch zum Schutz vor der generellen Bedrohung des Individuums durch Krankheiten oder böse Geister getragen, konnten aber auch ‚therapeutisch‘ gegen ein spezifisches Leiden, wie Verdauungsprobleme und Fieber eingesetzt werden. Da die Amulette häufig Text enthielten, der aus magischen Formeln und der Anrufung von göttlicher Hilfe bestand, wurden sie aus verschiedenen, beschreibbaren Materialien, wie Papyrus oder metallenen lamellae gefertigt, die gerollt und gebunden oder in kleinen Metallröhrchen unmittelbar am Körper – etwa um den Hals, am Arm oder an der Hüfte – getragen worden sind. Da einfachere Amulette leicht selbst gefertigt werden konnten, erfreuten sie sich in der gesamten Antike und in zahlreichen Kulturen großer Beliebtheit. Dem für die Konservierung von Papyri günstigen Klima Ägyptens ist es geschuldet, dass zahlreiche Überreste dieser individuellen Schutzmaßnahmen gegen Krankheiten und Seuchen auf uns gekommen sind; so etwa auch das folgende Beispiel:

P. Mich. 6666, recto, Fieber-Amulett, Papyrus, 5,8 cm x 12 cm, 3. Jhdt. n. Chr., Ägypten
© gemeinfrei
P. Mich. 6666, verso, Fieber-Amulett, Papyrus, 5,8 cm x 12 cm, 3. Jhdt. n. Chr., Ägypten. Auf der Rückseite lassen sich Spuren der einstigen Faltung noch deutlich erkennen.
© gemeinfrei
Supplementum Magicum 1
© Robert Walter Daniel & Franco Maltomini, S. 11

Der 14 Zeilen umfassende griechische Text dieses in Ägypten gefundenen Fieber-Amulettes aus dem 3. Jhd. n. Chr. offenbart eine Reihe von charakteristischen Merkmalen magischer Praktiken und medizinisch-magischer Amulette: Neben den astralen Bezügen in Form von Sternen und dem Halbmond ist es vor allem die Anordnung des Textes in Form eines gleichschenkeligen Dreiecks, der magische Wirksamkeit zugeschrieben worden ist: Die Zeilen 1-2 enthalten verschiedene magische Formeln und mutmaßlich die Namen bestimmter ägyptischer Gottheiten, denen heilende Kräfte zugeschrieben worden sind. Die Zeilen 3-5 enthalten eine Anrufung an die Götter: „Götter, heilt Helene, die ... geboren, von jeder Krankheit, jedem Schüttelfrost und jedem Fieber [...].“ Die Wiederholung und sorgfältige Auflistung aller möglichen Übel entspricht der antiken Überzeugung vom Eintreten der ‚vertragsgemäßen‘ Schutzwirkung, werden die magischen Formeln und Anrufungen der Gottheiten genau eingehalten. Eingerahmt ist das Ersuchen durch eine im Schwindeschema erfolgende Aufzählung von Vokalen, die mit der für zahlreiche magische Papyri bezeugten Vorstellung zu erklären ist, dass die dergestaltige Verkleinerung des Namens eines bösen Geistes oder einer Krankheit bis hin zur Auflösung deren Wirkmacht brechen würde.

Dass magische Praktiken und die Wirkmacht von Amuletten zum Schutz gegen Krankheit in der christlichen Antike fortbestanden, bezeugt neben vielen anderen Beispielen auch der folgende Text aus dem 5./6. Jhd. n. Chr., einer Zeit als Ägypten zum christlichen oströmischen Reich gehörte; ein schmaler und vermutlich zusammengerollt getragener Papyrusstreifen berichtet folgendes:

… Jungfrau Maria, und wurde gekreuzigt von Pontius Pilatus und wurde im Grab beigesetzt und auferstand am dritten Tage und wurde gen Himmel gehoben und… Weil Du, [Jesus, M.S.], dann jedwedes Gebrechen und jede Krankheit der Menschen geheilt hast, … Jesus, … glaube … weil Du damals ins Haus der Schwiegermutter Petri gingst, die fiebrig war, und das Fieber verging; so bitte ich Dich, heile nun, Jesu, Deine Dienerin, die Deinen heiligen Namen trägt, von jeder Krankheit und jedem Fieber, von Schüttelfrost, von Kopfschmerz und von jeder Hexerei und von jedem bösen Geist, im Namen des Vaters und des Sohnes und es Heiligen Geistes. – (Übers. nach M. W. Meyer)

Papyrus, Ägypten, Christliches Amulett, 5.–6. Jh. n. Chr. 3 cm x 30,1 cm
© Staatliche Museen zu Berlin

Den Namen der Frau wissen wir nicht, wohl aber, dass sie Jesus als göttlichen Beistand anrief und um Schutz vor Fieber, Krankheit, Hexerei und bösen Geistern bat; der Text schließt mit dem Trishagion, dem Lob der Trinität. Die Verbindung aus christlicher Volksfrömmigkeit und magischen Praktiken offenbart sich nicht nur in der Berufung auf die neutestamentliche Überlieferung der Leidens¬geschichte sowie der Wundertaten Christi und dessen Anrufung als heilende Gottheit, sondern zugleich auch darin, dass – ähnlich wie die magischen Formeln des ersten Beispiels – die trinitarische Formel die Wirksamkeit des Amulettes gewähren soll.

Medizinisch-magische Amulette galten der gesamten Antike als probates Mittel, um sich gegen die Unwägbarkeiten menschlicher Existenz zu wappnen. Die dem zugrundeliegende Überzeugung der Wirkmacht von Anrufung und Bitten in Form ‚magischer Texte‘ lässt sich durchaus auch in der Gegenwart beobachten: Etwa in traditionsorientierten jüdischen Haushalten werden Mesusot – ritualisiert hergestellte und besonders beschriebene Pergamente in Schriftkapseln – als Segensspender an Türrahmen bestimmter Räume angebracht. Ausgehend von der althistorischen Perspektive auf das Phänomen des Bedürfnisses nach Schutz vor Krankheit und Leid als anthropologischer Konstante menschlicher Existenz lässt der Blick auf magische Praktiken und apotropäische Amulette der Alten Welt die gegenwärtige Debatte um alltägliche und individuelle Schutzmaßnahmen gegen die epidemischen Unwägbarkeiten in einem anderen Licht erscheinen.