Winzige Wesen

Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik)

© CDC/ Dr. Fred Murphy; Sylvia Whitfield

Niemand von uns, die wir nicht in einem virologischen Institut beschäftigt sind, hat je ein Corona-Virus gesehen. Dennoch ist es seit Beginn der Pandemie als Bildmodell sichtbar, in Form einer unterschiedlich eingefärbten, irgendwie unsympathisch wirkenden stacheligen Kugel, die in allen Medien begegnete. Indessen hat man den Eindruck, dass die mediale Präsenz des kugelförmigen Wesens etwas zurückgegangen und flächigeren, gleichwohl lebendiger wirkenden Darstellungen gewichen ist, seit wir gelernt haben, mit Corona zu leben.

Auch die Literatur macht das Unsichtbare sichtbar. Die polnische Nobelpreisträgerin des Jahres 2018 Olga Tokarczuk hat 2014 einen Roman mit dem barocken Titel veröffentlicht Die Jakobsbücher oder Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet. Eine Reise, erzählt von den Toten und von der Autorin ergänzt mit der Methode der Konjektur, aus mancherlei Büchern geschöpft und bereichert durch die Imagination, die größte natürliche Gabe des Menschen. Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung. Der Roman erzählt in fiktionalisierter Form vom Leben des Kabbalisten und Begründers des Frankismus Jakob Joseph Frank (1726-1791), der vom Judentum zunächst zum Islam und dann zum Christentum konvertierte. Als der Protagonist mit seinen Anhängern im Jahr 1755 ins galizische Mielnice kommt, ist dort eine Seuche ausgebrochen:

Im Dorf stehen polnische Wachen, der Seuche wegen wollen sie keine Reisenden aus der Türkei passieren lassen. […]
Die Schenke wirkt gut ausgestattet, der Wirt aber erklärt, dass die Seuche die Menschen vertreibe, niemand wagt es, aus dem Haus zu gehen und bei denen zu kaufen, die von ihr befallen sind. Was sie an eigenen Vorräten hatten, ist aufgebraucht, sie möchten ihm verzeihen und selbst für ihr Essen sorgen. Als er spricht, hält er sich fern von ihnen, bleibt in sicherem Abstand, er fürchtet ihren Atem und ihre Berührung.
Jener seltsam milde Dezember hat winzige Wesen zum Leben erweckt, die um diese Jahreszeit gewöhnlich tief in der frostharten Erde schlummern, jetzt aber der Wärme wegen an die Oberfläche gekrochen sind, um Verderben zu bringen und zu töten. Im formlos dichten Nebel verbergen sich die winzigen Wesen, im stickigen, giftigen Wrasen, der über den Dörfern und Städten steht, im übel riechenden Brodem, den die Körper der Befallenen ausdünsten – in allem, was die Menschen ,seuchenschwangere Luft‘ nennen. Gerät diese Luft in die Lunge, gelangen die winzigen Wesen sogleich ins Blut, entzünden es, dringen bis zum Herzen vor – und der Mensch muss sterben. (Olga Tokarczuk, Die Jakobsbücher, Zürich 2019, 857f.)

Einiges kommt uns bekannt vor: Grenzkontrollen, leere Restaurants, die Sorge um das Nötigste, Abstand zu den Mitmenschen. Um welche Seuche es sich in Tokarczuks Roman handelt, erfahren wir nicht, aber die Erreger werden als „winzige Wesen“ dargestellt, die aus dem Erdreich aufsteigen. Das Wort ‚Wesen‘ gibt es lt. Duden nur im Deutschen und im Niederländischen und seine Bedeutung changiert zwischen ,Dasein‘, höherem Wesen‘, ,Lebewesen‘, ,Gegenstand‘ und ,wahrer Natur‘; wie in Tokarczuks Erzählung ist es als aktiv-wirkend konnotiert. Nun ist ein Virus kein Lebewesen, ein Bakterium indessen sehr wohl. Winzig und dem bloßen Auge unsichtbar sind sie beide. Nebel und Wrasen (Rauch) sind gleichfalls Medien der Unsichtbarkeit, insofern als sie selbst zwar sichtbar sind, aber gleichwohl die Sicht benehmen. Wenn die winzigen Wesen im Nebel und im Wrasen aufsteigen, wird eben ihre Unsichtbarkeit auf anschauliche Weise sichtbar.