| Aus dem Tagebuch eines Physikers im Jahre 2100
Aus dem Tagebuch eines Physikers im Jahre 2100

Eine kleine Anekdote

Also, eines steht fest, entweder bin ich komisch oder so ziemlich alle anderen Männer dieser Erde.

Ich heiße Manuel und habe zu diesem Semester mit dem Physikstudium in Münster begonnen.
Ich wollte schon immer Physik studieren, da mich diese Naturwissenschaft einfach fasziniert. So fiel mir die Wahl, einen Physik-Leistungskurs zu wählen, damals nicht schwer, wobei ich sagen muss, dass ich in diesem dreijährigen Leistungskurs jederzeit die Ehre eines ganzen Geschlechts retten musste. Das war ganz schön anstrengend: Immer gegen 24 Mitschülerinnen und eine Lehrerin, die alle der Meinung waren, ich hätte mich verlaufen, das Kreuz bei der LK-Wahl einfach falsch gestzt, mich spontan falsch entschieden, das kann doch mal passieren, denn Männer und Physik, das ist nun schon über 50 Jahre vorbei. Ein Mann, der sich für Physik interessiert - ein Ding der Unmöglichkeit.
Naja, damals dachte ich, naiv wie ich war, das würde sich an der Uni alles ändern, da würden Wünsche wahr werden, einmal nicht durch das Geschlecht aufzufallen. Konnte ich denn wissen, dass alle Stufen aus Münster bei der LK-Wahl und Berufswahl doch irgendwie ähnlich wählen?

Damals soll es wirklich ganz anders gewesen sein. Meine Großmutter hat mir Geschichten davon erzählt, dass sie ihr ganzes Leben lang hat kämpfen müssen, Geschlechterkrieg eben. Sie hat immer alles doppelt so gut machen müssen bei der Bewerbung bei irgendwelchen qualifizierten Stellen, nur einmal habe sie auf Anhieb ihre gewünschte Stelle bekommen, und das sei wohl eher wegen der Frauenquote gewesen, sagt sie. Deshalb habe sie jetzt auch gar kein Mitleid mit mir; ich habe sogar manchmal das Gefühl, dass sie sich heimlich freut, wenn ich erzähle, dass die Mädels aus meinem Semester hinter mir her pfeifen und ich bei der täglichen Begrüßung "Guten Morgen, liebe Studentinnen, guten Morgen, lieber Student" erröte. Wenn sich ein Mädel mit mir unterhält, hat es diesen kritischen Blick, den ich bereits sehr gut kenne, und der mir sagt, dass ich ihr zunächst einmal erklären soll, wie ich überhaupt dazu gekommen bin, gerade Physik zu studieren. Ich glaube, ich bin wirklich merkwürdig, bestenfalls, einfach anders als die anderen.

Ich finde das Verhalten der Mädchen fies und gemein, irgendwie sind die zickig und absolut doof. Für mich ist das jedenfalls äußerst unangenehm. Ich sollte wirklich mal die "psychologische Beratungsstelle für Männer" aufsuchen. Da wird man mich doch bestimmt verstehen. Nein, ich habe doch wirklich keine Hemmungen, dort hinzugehen.

Ich bin wirklich fertig mit den Nerven, fühle mich wie ein Hinterhof im November. Ich habe mich letzte Woche für einen Ferienjob im physikalischen Institut beworben, heute hat mich der Sekretär der Professorin angerufen und gesagt, es täte ihm ja so leid, aber er dürfte keinen Mann einstellen, da keine sanitären Anlagen vorgesehen wären. Das ist doch zum Verrücktwerden. Ich dachte, vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich.

Vielleicht habe ich mich wirklich falsch entschieden, das Studium nervt mich seit dem ersten Tag und die Berufsaussichten sind auch nicht rosig für mich, wie ich heute erfahren habe. Die Chefin eines Personalbüros meinte, man ziehe schon Frauen vor, die seien einfühlsamer, das sei so wichtig für die Teamarbeit. Ich weiss nicht viel, ich weiss nur, dass meine Motivation den Nullpunkt schon lange erreicht hat.

Heute bin ich im 5.Semester, habe gerade das Vordiplom hinter mich gebracht. Ich muss gestehen, dass mir das Studium immer mehr Spass macht und ich langsam sogar Gefallen daran finde, so viele Kommilitoninnen zu haben. Vielleicht habe ich das alles im 1.Semester viel zu kritisch gesehen, wegen all dem Stress, den wohl jeder Ersti hat, habe alles auf das Geschlecht geschoben, mich selbst schwach gemacht und dadurch so einiges provoziert. Denn irgendwie lebt es sich doch ganz gut so "fast allein unter Frauen" Vor kurzem hat mir der Männerbeauftragte sogar eine Stelle angeboten, mit der ich sehr glücklich bin. Ich soll Websites entwerfen für interessierte Physikschüler und sie motivieren, Physik zu studieren.
Na, wenn das meine Großmutter wüsste...