Was ist Geschlechterforschung, was sind „Gender Studies“ in der Physik?

Ein Beitrag der AG Genderforschung in der Physik zum #4genderstudies am 18. Dezember.

Geschlechterforschung ist kein eigenes Fach, sondern ein über viele Disziplinen verteilter Ansatz, der sich mit dem Verhältnis von Geschlecht zu Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft beschäftigt. Dabei fragt Geschlechterforschung einerseits, wie das Geschlecht menschliche Gemeinschaften beeinflusst und andererseits, wie Gemeinschaften wiederum Geschlecht formen [1].

Geschlechterforschung scheint auf den ersten Blick vor allem in den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften angesiedelt, doch findet sie auch viele offene Fragen in interdisziplinä-ren Forschungsbereichen in Verbindung mit Medizin oder den Naturwissenschaften.

Was kann Geschlechterforschung in der Physik leisten?

Die Physik ist jenes Wissensgebiet, das den unbelebten Kosmos erforscht. Sie handelt von den grundlegenden Phänomenen der Natur, von der Materie und deren Eigenschaften und erklärt deren Verhalten in Raum und Zeit durch Gesetzmäßigkeiten. Erkenntnisfortschritte ergeben sich in einem langsamen, oft zähen Prozess des Spekulierens, Experimentierens, Verwerfens und Entdeckens, der so alt ist wie die Physik selbst. Frauen. haben in diesem Erkenntnisprozess immer eine wesentliche Rolle gespielt, auch wenn nur wenige von Ihnen heute bekannt sind. Wem sind Hypatia von Alexandrien, Emilie du Chatelet, Agnes Pockels, Lise Meitner, Maria Göppert Meyer oder Jocelyn Bell Burnell neben Marie Curie geläufig? Sie alle haben mit wegweisende Entdeckungen die Physik voran gebracht [2,3].

Auch heute noch studieren weniger Frauen als Männer Physik, entscheiden sich diese sich aus vielfältigen Gründen häufiger für einen Ausstieg oder gegen eine Karriere in der Physik und ist die Zahl von Frauen in Führungspositionen in der Physik noch immer unter zehn Prozent [4,5].

Dieser Sachverhalt provoziert geradezu die Frage, ob die Physik ein Fach ist, in dem Geschlechtergleichheit oder Geschlechtergerechtigkeit noch nicht Einzug gefunden haben. Ist die Physik in Inhalt, Form und fachwissenschaftlichem Habitus wirklich so geschlechtsneutral, wie die Gegenstände physikalischer Forschung es sind?

Diese Frage, die an der Schnittstelle von fachwissenschaftlicher Kultur und gesellschaftlichem Kontext angesiedelt ist, kann nur aus und mit dem Wissen eines Fachgebiets sowie in interdisziplinärer Forschung beantwortet werden.

Unsere Arbeitsgruppe, die sich einerseits mit Fragen der Grundlagen und Anwendungen nichtlinearer Photonik – von Biophotonik über Nanophotonik bis hin zur Informationsoptik – beschäftigt und damit fachlich „mitten in der Physik“ angesiedelt ist, arbeitet andererseits genau aus dieser Perspektive heraus mit einem interdisziplinären, vielfältigen Forschungsteam empirisch zu Geschlechterfragen im Kontext der Physik. Sie behandelt damit exemplarisch einen wichtigen und kaum erforschten Bereich gesellschaftlicher Phänomene und Probleme.

Dieses Forschungsgebiet, das international seit einigen Jahren etabliert ist [6], ist in der deut-schen Hochschullandschaft noch sehr wenig bekannt. In der Physik betreten die wenigen Pro-fessuren, welche sich mit diesem Themengebiet beschäftigen, Neuland.

Unser Ziel ist es, mit der Analyse von Geschlechterfragen in der Physik mittelfristig eine Ver-besserung der Karriereoptionen von Frauen in diesem Fachgebiet zu erreichen. Dazu wenden wir aus dem vielfältigen Methodenkanon der Sozialwissenschaften zahlreiche Verfahren an, so dass Geschlechterfragen belastbar auf Grundlage harter wissenschaftlich abgesicherter Fak-ten beantwortet werden und direkte Resultate für den Alltag von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entstehen. So tragen wir durch wissenschaftlich exzellente Forschung zur gesellschaftlichen Aufklärung bei und wirken zum Nutzen aller in unserer Gesellschaft an Maßnahmen für mehr Gleichstellung mit. Unsere vielfältigen Projekte und Publikationen belegen den Erfolg dieses Ansatzes.

Unser Beispiel zeigt, dass exzellente physikalische Forschung und gleichzeitige innovative Geschlechterforschung zusammenpassen. Physikalische und Geschlechterforschung lassen sich zum beidseitigen Nutzen sehr gut unter einem Dach vereinen.

Weiterführende Literatur:
[1] Christina Braun, Inge Stephan (2000). Gender Studien: Eine Einführung. Metzler, Stuttgart/Wismar.

[2] Cornelia Denz, Annette Vogt (2005). Einsteins Kolleginnen - Physikerinnen gestern und heu-te. Kompetenzzentrum Technik – Diversity – Chancengleichheit, Bielefeld.

[3] Cornelia Denz (1994). Von der Antike bis zur Neuzeit - der verleugnete Anteil der Frauen an der Physik. TU Darmstadt, Darmstadt.

[4] Christine Mayer, Agnes Sandner (2013). Physikerinnen: Zahlen und Fakten. Vortrag Deutsche Physikerinnentagung, Link

[5]  Christine Mayer (2015). Physikerinnen: Zahlen und Fakten. Vortrag Deutsche Physikerinnentagung, Link

[6] Gender in Physics. A special collection highlighting the current state of the field of physics education research as it relates to gender in physics (2016), Physical Review Physics Education Research 12.