"Auf einmal war ich frei"

Kreativität - Ein roter Faden durch die Universität

"Ohne Kreativität keine Wissenschaft", hat Universitätsrektor und Physiker Prof. Dr. Wessels in einem der letzten UKK-Magazine als Devise vorgegeben. Und tatsächlich: Sieht man sich bewusst um, findet man an der WWU überall kreative Einflüsse, die das universitäre Leben bereichern. So komplex und divers die Universität mit ihren 15 Fachbereichen, rund 45.000 Studierenden und knapp 8.000 Mitarbeiterinnen ist – sind Kreativität und die mit ihr einhergehenden Methoden vielleicht ein verbindendes Element? Ein roter Faden, der sich durch alle Fachbereiche zieht? Um das herauszufinden haben wir uns auf die Suche begeben und uns mit Menschen aus unterschiedlichen Bereichen der Universität über Kreativität ausgetauscht.

Das Alternative-Pop-Duo "We Will Kaleid" setzt sich aus der Sängerin Jasmina de Boer und dem Schlagzeuger Lukas Streich zusammen und besteht seit gut zwei Jahren. Musikalisch kennen sich die beiden Musikerinnen in- und auswendig. Trotzdem hat de Boer jedes Mal Herzklopfen, wenn sie ihrem Bandkollegen neue Liedtexte zeigt. Feedback und Kritik gehören zum Tagesgeschäft der beiden Musikerinnen, auch wenn das manchmal richtig unangenehm werden kann. Dass das aber wichtig ist und sie oft weitergebracht hat, da sind sie sich einig. Und genau das schätzen die beiden auch an ihrem Umfeld in der Musikhochschule und an ihrer gemeinsamen Arbeit dort: die Feedback-Kultur, die stets auf`s Neue herausfordert und dazu bewegt, immer weiter an den eigenen Songs zu feilen.

Aber woher nimmt man die Inspiration für etwas Neues? Und wie kommt die erste Note auf das Blatt, die erste Figur in die Choreografie? Yasemin Töre, Balletttrainerin beim Hochschulsport und Medizinstudentin, arbeitet mit einem flexiblen Konzept, indem sie sich immer wieder an einzelnen Bausteinen orientiert und diese neu kombiniert. Ihre Choreografien fangen mit einem Lied an, das sie dann vorzugsweise in emotionalen Extremsituationen anhört, und dabei entstehen bewegte Bilder in ihrem Kopf. Anhand dieser ersten Entwürfe und durch den Austausch mit der Ballettgruppe entwickelt sich letztendlich die fertige Choreografie.

Neben dem hohen Stellenwert von Austausch, Kritik und Feed-back ergibt sich in den Gesprächen ein weiteres gemeinsames Element: die Methode der Reduktion. Bei ihrer gemeinsamen Arbeit brechen Yasemin Töre und das Performance-Team des Hochschulsports altbekannte Figuren auf ihre Grundlage runter und kombinieren diese so, dass ein spezifisches Gefühl ausgedrückt wird. Das Ergebnis sind neue Elemente, die im klassischen Ballett nicht vorgesehen sind.

Welche Rolle spielt nun aber Kreativität in der Medizin und welche Gemeinsamkeiten gibt es mit dem Ballett? "Beim Tanzen versuchen wir, komplexe Bewegungen auf ihre Essenz runter zu brechen. Wir überlegen uns: Was steckt eigentlich in diesem Sprung? Alles andere ist variabel. Ich denke, das ist in der Wissenschaft ähnlich. Man sieht einen komplexen Vorgang und überlegt, was die Essenz des Vorgangs, was Zusatz ist und was verschleiert, was im Hintergrund passiert."

Bei der Band "We Will Kaleid" steht am Anfang eines neuen Songs immer ein übergeordnetes Konzept – also auch hier eine Reduktion auf einen Aspekt, auf den aufgebaut wird. Erst dann kommt die Musik, gefolgt vom Text: "Wir gehen über das Gefühl zu dem Thema. Wir improvisieren mit allem, was sich so anfühlt, als würde es aus diesem Gefühl herauskommen. Und dann kommt irgendwann der Punkt, dass wir sagen: Ja, das passt, das sagt, was wir gerade fühlen."

Wenn man Musik machen will, dann reicht Kreativität alleine laut Prof. Ulrich Schultheiss, Dozent an der Musikhochschule Münster, nicht aus. Sie sollte aber auf jeden Fall im Spiel sein. Im Rahmen des Studiengangs "Musik im Kontext" unterrichtet Schultheiss unter anderem Komposition. Neue Studierende werden erst einmal abgeklopft: Wie ist der Gesamtzustand, wo sind Defizite, wo Stärken? Wie tickt jemand? Denn Komposition ist ein individueller Prozess: Die einen setzen sich an das Klavier und improvisieren drauf los, andere denken, sie könnten nicht improvisieren. Bei Ersteren ist es oft zu viel, aber es gibt eine Grundlage, die man in Form bringen kann. Letztere werden Schritt für Schritt an die Improvisation herangeführt.

Reduktion spielt auch eine wichtige Rolle, wenn Studierende ihre kreativen Möglichkeiten nicht mehr ausschöpfen und sich in Routinen retten. In diesen Fällen versucht Schultheiss, Blockaden aufzusprengen, indem er die Studierenden ein Stück mithilfe einer Verlaufsgrafik planen lässt: Was soll in dem Stück passieren? Wie lang soll das Stück sein? Was soll in den einzelnen Teilen passieren? Welche Instrumente sollen welche Rolle übernehmen? Die Methode der grafischen Kompositionsplanung soll verhindern, dass die Studierenden sich von gewohnten Fingersätzen verleiten lassen und sie ermutigen, bewusst zu entscheiden, was als nächstes passiert.

Dieses Herunterbrechen auf die Essenz kann für die eine funktionieren, für die nächste wiederum nicht. Deshalb ist der Musikprofessor daran interessiert, eine Ebene mit den Studierenden zu finden, die ermöglicht, dass beide Seiten jederzeit auf die Bremse treten, wenn etwas aus dem Ruder läuft: "Wir reden darüber und treffen gemeinsam eine Entscheidung, suchen das Problem und versuchen es anzupacken. So finden wir dann einen anderen Weg raus."

Manche Studierende bringen gute Ideen mit, die jedoch auf den Punkt gebracht werden müssen. Als Hilfestellung gibt Schultheiss ihnen sehr begrenztes Material – beispielsweise zwei Intervalle, mit denen sie ein circa einminütiges Stück schreiben sollen. Abgesehen von diesen Vorgaben sind sie frei. An diesem Punkt setzt oft ein sehr spannender Prozess ein: Sie beginnen sich zu fragen, was sie dürfen und was sie mit diesem Material machen können. Und dann merken sie: "Eigentlich kann ich alles machen", und schaffen sich ihre eigenen Regeln. Auch Schultheiss hat das in seinem Studium erlebt: "Ich habe gemerkt: Das ist keine Einschränkung, das ist ein Angebot. Und auf einmal war ich frei."

Für ihn ist entscheidend, dass er seinen Studierenden nichts überstülpt, sondern sie dabei unterstützt, ihre eigene Sprache zu finden. Und dabei sind auch Misserfolge wichtig: Die Studierenden sollen entdecken, wie sie ihre Inspiration wiederbekommen und Strategien entwickeln, auch mit Durchhängern umzugehen.

"Ich glaube, dass Kreativität in allen Menschen steckt. Die Frage ist nur: Wie holst du sie raus?" Jasmina De Boer hat das Studium an der Musikhochschule dabei sehr geholfen und auch dabei, ihr Potenzial zu formen. Laut ihrem Bandkollegen Streich waren selbst Aufgaben, die ihm zunächst fremd und unbequem erschienen, sehr hilfreich, da sie ihm Anlass dazu gaben, sich mit etwas Neuem auseinanderzusetzen und den eigenen Horizont zu erweitern.

In allen Gesprächen wird eines deutlich: Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die nicht ungerichtet ihre kreativen Ideen in die Welt entlassen, sondern auch etwas zu sagen haben, und denen ihre Arbeit eine Herzensangelegenheit ist. Die Produkte dieser persönlichen Auseinandersetzungen sind dementsprechend intim. De Boer beschreibt einen Zeitpunkt, zu dem ein Song noch so fragil ist, dass Kritik an ihm sie richtig treffen kann. Sobald er aber steht, können beide gut mit ihr umgehen, denn sie wissen, was sie mit ihrem Lied sagen und zeigen wollen. Das Gefühl, dem Publikum gefallen zu wollen, hat sich während des Studiums zunehmend zu dem Gefühl entwickelt, sich nicht mehr verbiegen zu müssen. Und die beiden Musikerinnen sind sich einig: "Es wird immer Leute geben, die gut finden, was wir machen. Und das sind die, die wir erreichen wollen."

Obwohl unsere Gesprächspartnerinnen sich mit verschiedenen Inhalten beschäftigen, sind die Methoden oft ähnlich: Zunächst die Reduktion auf etwas Elementares, um sich dann von alten Mustern frei zu machen und umzudenken. Komposition, Tanz, Forschung: Alles folgt spezifischen Regeln. Doch alles Neue erfordert kreatives Umdenken und konstruktiven Austausch mit Anderen – jede ist angewiesen auf ein wohlwollendes, konstruktives Umfeld, in dem sie sich entfalten kann und viele haben das Privileg, dieses Umfeld an der Universität gefunden zu haben.

| Jennifer Liebsch

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