Christentum in der Vielfalt der Kulturen zu denken

 

 

„Gemeinsam das Evangelium verkünden – Bemerkungen zur Enteuropäisierung europäischer Christenheit“ lautete der Titel der heutigen Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Giancarlo Collet, der seit 1988 am als Direktor des Instituts für Missionswissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität lehrt.
Prof. Dr. Dr. Alfons Fürst, der amtierender Dekan der Fakultät, eröffnete die Veranstaltung vor mehr als 200 Studierenden, Kollegen und Freunden, die sich im Audi Audi-Max versammelten, um den beliebten und anerkannten Theologen Collet gebührend in die Emeritierung zu begleiten.

„Es ging Dir darum, zentrale Anliegen der Befreiungstheologie in unsere theologischen Debatten zu vermitteln und damit umgekehrt das hiesige Theologietreiben in einen größeren Welthorizont zu stellen. Dein Ansinnen war und ist es, den Eurozentrismus unserer Theologie aufzubrechen, Christentum in der Vielfalt der Kulturen zu denken und das so ernst zu nehmen, dass Du von „Christentümern“ im Plural sprichst, um darauf aufmerksam zu machen, dass keineswegs sicher ist, dass Christen untereinander dasselbe meinen, wenn sie vom vermeintlich selben reden. Kirche ist, so Dein Plädoyer, als Weltkirche zu begreifen, die ihren numerischen Schwerpunkt schon längst nicht mehr in Europa hat und die schon längst nicht mehr eine weltweit ausgedehnte römische Kirche abendländischer Prägung ist, sondern viele, viele Gesichter bekommen hat“, lauteten die Eingangsworte der Laudatio des Dekans zu Ehren von Herrn Collet, der das Institut für Missionswissenschaft zu einem weltweit bekannten Aushängeschild machte.


In den Fokus seiner Abschiedsvorlesung setzte Collet zuerst die Klärung der Frage, wie es zur Begegnung mit verschiedenen Christentümern in unserem Kontext gekommen ist und welche neuen Aufgaben dadurch auf Gesellschaft und Kirche zukommen.
„Durch die wachsende Migration haben sich nicht nur die gesellschaftlichen, po­liti­schen und religiösen Verhältnisse in der Welt verändert, sondern auch die kirchli­chen Landschaften transformieren sich“, so Collet.
Migration verändere nicht allein die Auswandernden und deren Gesellschaften, sondern auch jene, in de­nen sie ankommen, und stellen diese vor neue Her­ausforderun­gen.
Auch Christinnen und Christen sind in Migrationsbewegungen involviert und tragen somit zur Differenzierung  der religiösen und kirchlichen Landkarte bei.
Überall auf der Welt gibt es mittlerweile sogenannte „christliche Migrationsgemeinden“, wie Collet sie bezeichnet; er und erklärt den Zuhörern die Begriffsbedeutung wie folgt: „christliche Christliche Migrations­gemein­den sind von oder für Migrantinnen und Migranten gegründete Ge­meinden, de­ren Mit­glieder mehrheitlich Menschen mit  Migrationshintergrund sind und die sich zum katholischen, evangelischen, orthodoxen, methodisti­schen, adventisti­schen oder einem anderen Glauben be­kennen.“
Als Fazit der Ausführungen Collets lässt sich für die Zuhörerschaft festhalten, dass Migranten, die aus nichteuropäi­schen Ländern nach Deutschland kommen und zu denen nicht wenige Christinnen und Chris­ten gehören, nicht etwa eine Entch­ristlichung europäischer Ge­sellschaften repräsentieren, sondern vielmehr eine Enteuropäisie­rung euro­päischer Chris­ten­heit.
„Kirche und Gesellschaft sind aufgefordert, sich um die Bewahrung und Integration von kulturellen Lebensweisen und religiösen Glaubensüberzeugungen von Migranten zu bemühen und diese zu berücksichtigen“ so der Appell des Missionswissenschaftlers.


Was das nun ganz konkret bedeutet, erläutert der Theologe wie folgt: „In einer durch Migration verstärk­ten multi­kulturel­len Gesellschaft bietet sich nicht zuletzt der Kir­che die Chance, selbst multikulturell zu werden und deren ethno­zentrisches Selbstverständ­nis zu überwinden, wonach es bloß darum ginge, Migrationschristinnen und -chris­ten in die eigene bisherige Kir­chenstruktur zu integrieren, ohne gleichzeitig die ei­gene Kirche ändern und sie ökumenisch öff­nen zu wollen. Es gilt die eigenen Vor­stel­lungen von Orthodoxie und Uniformität zu überprüfen.“

Es mag naheliegend sein, dass Migrantinnen und Migranten als  „unter dem unbedingten Schutz Gottes“ stehende Fremde und Flüchtlinge zu sehen sind, die darum auch der besonderen Aufmerksamkeit und Fürsorge seitens der Kir­chen bedürfen. „Diese Sicht bleibt aber ekklesiologisch und ökumenisch verkürzt“, erklärt Collet.
Eine etwas andere Betrachtung weltweiter Migration könnte sich ergeben, wenn sich Christinnen und Christen ihres eigenen Selbstverständnisses als Migrantinnen und Migranten bewusst werden und sich dessen vergewissern würden, ohne dabei über alle die realen sozio-politischen und ökonomischen Probleme hinwegzugehen.

Es gilt, die Einheit des Evangeli­ums glaubwür­dig zu bezeugen, was schon innerhalb der eigenen Kirche anfängt, in der Migran­tinnen und Migranten mit ihren unterschiedlichen Glaubensformen zu integrie­ren sind, damit sie Heimat finden.

Mit den Worten „Man spricht von "interkultureller Kirche" und versteht darunter eine Kir­che, die eine Brücke der Solidarität nicht nur unter Migranten, sondern auch zwischen Migranten und Einheimischen ist. Brücke ist eine solche Kirche deshalb, weil sie sozio-politische, kulturelle und religiöse Unterschiede zu überwinden hilft, zu einer besseren gegenseitigen Wahrneh­mung und schließ­lich zum solidarischen Engagement für das Gemeinwohl aller führt.“ Mit diesen Worten schließt schloss Collet seine Abschlussvorlesung.

Zu erwähnen bleibt auch, dass eine solche inter­kulturelle Kirche nicht nur neue Anforde­rungen für an die mit deren Leitung verantwortlichen betrauten Amtsinhaber stellt, sondern auch die Identitätsbildung christli­cher Gemeinde steht vor einem neuen Strukturie­rungsprozess steht, der über Prob­leme der Gemein­dezusammenlegung und -fusio­nierung weit hinausreicht.
Auch für die theologische Ausbildungstätten sollte dies curriculare Kon­sequenzen haben, denn interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen sind erforderlich, wenn heute von verschiedenen Christentümer die Rede ist.

Mit den Worten „Ich wünsche Dir für die jetzt anbrechende Lebensphase umfassendes Wohlergehen, Shalom, eu zên, bene vivere“, verabschiedet Fürst seinen Kollegen in die Emeritierung.