Lampedusa und die Empathie Gottes

Christliche und muslimische Theologinnen diskutieren an der Universität Münster zum Thema „Verwundbarkeit“

Verwundbarkeit ist eine Voraussetzung dafür, Beziehungen eingehen sowie mit- und füreinander handeln zu können – davon zeugen christliche und islamische Theologien. Das stellten muslimische und christliche Theologinnen bei der Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen, deutsche Sektion (ESWTR/D) heraus, die am Wochenende ( 7.- 9. November 2014) im Franz Hitze Haus in Münster.

In der Debatte um Armutsrisiken und Klimafolgenforschung, in Migrationsdebatten und in der Medizin markiert das Konzept der Verwundbarkeit (engl.: vulnerability) meist Schwachstellen in Systemen, Regionen, Organisationen. Die Vielschichtigkeit des Phänomens wird dagegen deutlich, wenn man betrachtet, wie das Eingehen eines Wagnisses Menschen auch stärken kann. Die katholische Theologin Prof. Dr. Hildegund Keul (Universität Würzburg) zeigte aus systematisch-theologischer Perspektive, welche Potentiale der Glaube an einen Gott biete, der Mensch wird und zwar als ein schutzbedürftiger Säugling in der Krippe. „Die Macht, die aus diesem Wagnis der Verwundbarkeit entsteht, wird heute auch an Orten wie Lampedusa dringend gebraucht“, so Keul. Die muslimische Theologin Dr. Muna Tatari (Universität Paderborn) stellte heraus, dass das Konzept der Vulnerabilität auch in der Beschreibung des Propheten Mohammed Anknüpfungspunkte finde. „Der Koran und die islamische Tradition schildern den Propheten als jemand, der sich erschüttern ließ – sowohl von den Offenbarungen, die ihm zuteil wurden, als auch von der verletzlichen Situation von Waisen, Frauen oder Sklaven in der damaligen Zeit.“ Ein leidender Gott wie in der christlichen Tradition lasse sich in der islamischen Theologie nicht beheimaten, führte die Theologin weiter aus, aber der Blick in die eigene, muslimische Tradition zeige in der Beschreibung Gottes als des Barmherzigen und in der islamischen Befreiungstheologie einen Gott, der sich vom Tun und Schicksal der Menschen berühren lasse.

Miriam Leidinger (Universität Köln) verwies darauf, dass der Begriff Vulnerabilität von etymologisch-semantischer Seite aus immer schon mehrdimensional zu verstehen sei. Damit sei „Verwundbarkeit“ nicht nur eine Zuschreibung, sondern verweise auf den Hintergrund, vor dem menschliches Handeln gestaltet werden wolle. Dr. Kathrin Klausing von der Universität Osnabrück stellte in einer koranexegetischen Untersuchung den Zusammenhang zwischen Vulnerabilität und den Bestimmungen zur Fürsorge für Waisen in Sure 4,3 vor und erläuterte, wie die Regelung der Polygamie in diesem Kontext verstanden werden kann.

Zum ersten Mal in der 28-jährigen Geschichte der ESWTR, die diese Tagung in Kooperation mit der „Arbeitsstelle Feministische Theologie und Genderforschung“ der Universität Münster organisiert hat, wurde ein Thema durchgehend aus christlicher und muslimischer Perspektive diskutiert.

In einer von Prof. Dr. Marie-Theres Wacker (Leiterin der Arbeitsstelle Feministische Theologie und Genderforschung) moderierten Podiumsdiskussion zum Thema „Wer wagt, wird verwundbar?“ erörterten Dr. Dina El Omari (Universität Münster), Dr. Tuba Isik (Universität Paderborn ), Hamideh Mohagheghi (Universität Paderborn) und Rabeya Müller (Universität Erlangen-Nürnberg) ihre Arbeit als muslimische Theologinnen an deutschen Universitäten. Dabei wurde u.a. der Begriff „Feminismus“ einer kritischen Prüfung unterzogen. Einerseits sei er politisch unverzichtbar und sollte auch weiterhin von Theologinnen aller Religionen im Kampf um Frauenrechte in Anspruch genommen werden. Andererseits sei er nicht ohne weiteres geeignet, die Anliegen muslimischer Frauen zur Sprache zu bringen, weil er zuweilen sehr undifferenziert mit einer pauschalen Islamkritik einhergehe. Die Schwierigkeiten, auf die die Institutionalisierung einer islamischen Theologie im deutschen staatskirchenrechtlichen System stößt, kamen ebenfalls zur Sprache. Gleichzeitig wurde deutlich, wie vielfältig die Gesichter des Islam auch in Deutschland bereits sind. 

Mini-Lectures zur Perspektive der Vulnerabilität in verschiedenen Themenkreisen (Familie und Arbeitswelt, Tierrechte und Fragen der Auslegung biblischer und nachbiblischer Texte) rundeten das Programm der Tagung ab. So wies Dr. Tuba Isik in ihrem Vortrag auf die Verwundbarkeit von Kopftuch tragenden muslimischen Frauen in der deutschen Arbeitswelt hin. Eine außereuropäische Perspektive brachte Pearly Walter ein, Pastorin der südindischen Kirche und Doktorandin an der Missionsakademie Hamburg, die die neutestamentliche Erzählung von Jesus, Maria und Martha (Lk 10, 38 - 42) aus der Perspektive von Dalit-Frauen, die im indischen Kastensystem als „Unberührbare“ gelten, analysierte.

Im Vorfeld der Konferenz, die von der Georges Anawati Stiftung, der Stiftung Apfelbaum und der Gleichstellungsbeauftragten der WWU Münster gefördert wurde, tagten die Fachgruppen der ESWTR/D. Die Fachgruppe Systematische Theologie wies darauf hin, wie dringlich eine weitere Differenzierung des Familienbegriffs in katholischen wie evangelischen kirchenamtlichen Stellungnahmen sei. Das Verständnis von „Familie“ habe die vielfältigen Gestaltungsformen zu berücksichtigen, die mittlerweile bereits selbstverständlich als Alternative zur herkömmlichen Kleinfamilie gelebt werden. Statt anderen Lebensformen als der Konstellation „Vater-Mutter-Kind“ das Familie-Sein abzusprechen, sollten Hilfen bereitgestellt werden, um notwendige Alternativen zu stärken, denn die Herausforderungen an „Familien“, welchen Zuschnitts auch immer, seien sehr groß und der ökonomische Druck enorm.

Die neutestamentlich-exegetische Fachgruppe suchte den Austausch mit islamischer Exegese und entwickelte zusammen mit anderen Teilnehmerinnen der Gesamttagung das Thema der nächsten ESWTR-Jahrestagung „Schrift in Streit. Jüdische, christliche und muslimische Perspektiven“ vom 04.-06. November 2016 auf Schloss Rauischholzhausen der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dabei soll an die vielfältigen Problemstellungen der drei monotheistischen Buchreligionen im Streit um die Auslegungen ihrer heiligen Schriften angeknüpft werden. Mit der interreligiösen Ausrichtung sollen gemeinsame Wege aus strukturanalogen Schwierigkeiten gesucht werden.

Die nächste Internationale Tagung der ESWTR mit dem Titel „Sharing the World and Sharing the Word“ findet vom 17.–21. August 2015 in der Orthodoxen Akademie auf Kreta statt.

 

Die Europäische Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen (ESWTR)

Die „Europäische Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen“ (ESWTR -  European Society of Women in Theological Research) ist eine wissenschaftliche Gesellschaft von Frauen in Europa, die in christlichen, jüdischen und muslimischen Theologien, der Judaistik, Islamwissenschaft, Indologie und anderen Religionsstudien sowie der allgemeinen Religionswissenschaft forschen.

Die ESWTR wurde 1986 in der Schweiz als Netzwerk von Wissenschaftlerinnen gegründet, um den theologisch und religionswissenschaftlich forschenden Frauen in Europa Information, Austausch und Kooperation zu ermöglichen. Eine Mitgliedschaft ist derzeit ausschließlich Frauen möglich.

Die ESWTR hat sich in den vergangenen knapp 30 Jahren zu einem wissenschaftlichen Verband entwickelt, dem rund 600 Mitglieder in über 30 Ländern angehören.

Die deutsche Sektion der ESWTR ist die größte Ländersektion. Auf der aktuellen Tagung in Münster wurden mit Rabeya Müller und Dr. Naime Cakir erstmals zwei muslimische Frauen in den Beirat der Forschungsgesellschaft gewählt.

 
Ausführlichere Informationen zur ESWTR/D finden Sie auch unter
http://www.eswtr.org/bd/home.html

 [Arbeitsstelle Feministische Theologie und Genderforschung]