Christian Kern
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„Orthodox Radicality? – Pastoraltheologie zwischen Klerikalismus und Synodalität“

Antrittsvorlesung von Christian Bauer
Zu sehen ist der gut besuchte Hörsaal bei der Antrittsvorlesung von Christian Bauer.
Der Hörsaal JO1 in der Johannisstraße war fast bis auf den letzten Platz besetzt.
© IRpP | CB

Viele Interessierte und Weggefährt:innen waren am 10. Juli nach Münster gekommen, um Dr. Christian Bauer, den neuen Professor für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät, zu begrüßen. Bauer hatte für seine Antrittsvorlesung ein spannendes Thema gewählt: Er referierte über "orthodoxe Radikalität" als eine Art und Weise, Theologie unter gegenwärtigen kirchlichen und gesellschaftlichen Bedingungen zu betreiben. Dazu entwickelte er eine Definition "orthodoxer Radikalität" in vier Punkten: Erstens als Namen für eine theologiegeschichtliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts, zweitens als Art theologischer Sozialisierung und Solidarisierung, drittens als methodologische Umsetzung in "Ortswechseln" und viertens als offene Epistemik.

1. Orthodoxe Radikalität als theologiegeschichtliche Entwicklung

Spätestens seit den 1940er Jahren habe sich in Theologien v.a. dominikanischer Prägung das Verhältnis zur Welt verändert, erklärte Bauer. Sie wurde positiv als Ort wahrgenommen, der theologisch relevant ist und eigene theologische Dignität besitzt. Protagonisten wie Marie-Dominique Chenu entdeckten und entfalteten methodologisch die Reziprozität von Dogma und Pastoral und begründeten einen Ansatz pastoraler Theologie, der später in der Pastoralen Konstitution des 2. Vatikanischen Konzils „Gaudium et spes“ aufgegriffen wurde.

2. Orthodoxe Radikalität als theologische Sozialisierung und Solidarisierung

Eine in den Zeichen der Zeit verortete Theologie, die sich in die Lebensrealitäten von Menschen heute hineinbewege, stelle kein Top-Down-Projekt und Instruktionsprozess einer gesellschaftlichen, akademischen oder kirchlichen Elite dar, führte Bauer aus. Es handele sich vielmehr um eine Theologie, die der Sehnsucht folge, anderem/den Anderen auf Augenhöhe zu begegnen, und sich von ihnen her überraschend ansprechen lasse. Theologisches Nachdenken werde zu einem kooperativen Suchprozess, ob, wie und warum von Gott heute unter gegebenen Dingen zu sprechen wäre. Ein „Hearing to speech“ enstehe, das andere zu eigenen Äußerungen bestärkt und inspiriert, in anderen Sprachen und Formen, an anderen Orten jenseits der üblichen; in Alltagssprachen am Küchentisch.

Diese theologische Reziprozität und Rezeptivität könne zu einer Solidarisierung werden besonders mit jenen Menschen, die an gesellschaftlichen und institutionellen Asymmetrien leiden und um die Lebbarkeit ihrer Leben ringen, sagte Bauer. Orthodoxe Radikalität meine in diesem Sinne sensible Zeitgenosschenschaft im sharing von „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ der Menschen von heute (GS 1).

Prof. Dr. Christian Bauer sprach bei seiner Antrittsvorlesung über orthodoxe Radikalität als Stil pastoraler Theologie.
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3. Methodologische Umsetzung in "Ortswechseln"

Ihre methodologische Umsetzung finde eine solche Pastoraltheologie christlicher Zeitgenossenschaft drittens in „Ortswechseln“, d.h. in explorativen Bewegungen zwischen mindestens zwei Polen: den Praxisfeldern heutigen gelebten Lebens einerseits und den Diskursarchiven von Glaubens- und Denktraditionen andererseits.

4. Orthodoxe Radikalität als offene Epistemik

Viertens sei „orthodoxe Radikalität“ spezifische, offene Epistemik bzw. Erkenntnispraxis. In ihr komme eine spezifische Grundhaltung zum Tragen, Wissen zu produzieren und mit Machtverhältnissen umzugehen. Theologische Wissensproduktion und pastorale Gestaltung werden nicht als Prozess verstanden, der asymmetrisch organisiert ist, nicht als Top-Down-Prozess, der Über-/Unterordnungsverhältnisse produziert, etabliert und verstetigt. Orthodox-radikale theologische Forschung und Lehre meinten vielmehr eine Art und Weise, theologisch zu sprechen, zu interagieren und zu arbeiten, die sich auf gemeinsame Suchprozesse einlässt, die geteilte Entdeckungen ermöglicht. Anstelle von Hierarchien setze sie auf offene kooperative Prozesse. Anstelle von stabilen Identifizierungen setze sie auf wechselseitige Differenzierungen. Unterschiedliche Akteur:innen nähmen an einem gemeinsamen Prozess teil, in dem neue Entdeckungen aus den unterschiedlichen Perspektiven möglich würden; ein Zusammenspiel „sich wechselseitig verstärkender Freiheiten“. Darin werde den anderen Gesprächs- und Interaktionspartner:innen ein offener Raum möglich. Etwas Anderes gewinne Gestalt und werde zur Spur des ganz Anderen, der sich „unter uns“ eventuell kundtut und wirkt.
 

Nach der Antrittsvorlesung hatte Christian Bauer die Anwesenden zu einem Empfang auf der Wiese vor dem Fakultätsgebäude in der Johannisstraße geladen.
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Als Bezeichnung für diese theologische Praxis griff Bauer den Begriff „Synodalität“ auf und unterschied ihn von „Klerikalismus“. Orthodoxe Radikalität grenze sich von „epistemischem Klerikalismus“ ab, d.h. von Arten und Weisen akademischer Wissensproduktion und Intellektualität, die Asymmetrien fördern und auf Unter-/Überordnung beteiligter Akteur:innen setzen. Sie grenze sich ebenso ab von „kirchlich-pastoralem Klerikalismus“, der theonome begründete Dominanz über andere Menschen fordert und auf Grundlage von Glauben Unterwerfungsverhältnisse zu legitimieren versucht – eine maßgebliche Ursache von Missbrauch und Vertuschung in kirchlichen Kontexten heute, wertete Bauer.

Er machte demgegenüber anderen Stil von Theologie stark: orthodoxe Radikalität als ein andersartiges, heteromorphes doing theology in explorativen und kooperativen Suchbewegungen, als synodale Form christlicher Zeitgenossenschaft.

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Prof. Dr. Norbert Köster, dem Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät. Musikalisch begleitet wurde sie durch drei Saxophon-Improvisationen, die Themen und Stimmungen der Veranstaltung aufgriffen und künstlerisch deuteten.

Nach der Antrittsvorlesung fand für die ca. 150 Teilnehmer:innen ein Empfang bei fränkischem Winzersekt und syrischem Streetfood statt.

Wer ist Christian Bauer?

Prof. Dr. Christian Bauer ist seit dem Sommersemester 2023 Inhaber des Lehrstuhls für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU. Über verschiedene Orte und durch verschiedene Kulturräume hindurch ist der aus dem unterfränkischen Gerbrunn bei Würzburg stammende Theologe nach Münster gelangt: Nach dem Diplom-Studium Theologie in Würzburg arbeitete er ab 2001 zunächst am Institut M.-Dominique Chenu in Berlin und ab 2008 als Assistent am Lehrstuhl für Pastoraltheologie in Tübingen. Die Arbeit an seiner Dissertation zur theologischen Dominikanerschule Le Saulchoir, besonders zu Marie-Dominique Chenu, führte ihn für Recherchen u.a. nach Paris. Bereits kurz nach dem Abschluss der Dissertation 2012 wurde Christian Bauer auf den Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik nach Innsbruck berufen, den er für zehn Jahre innehatte. Dort entwickelte er Pastoraltheologie als explorative Theologie, d.h. als eine Bewegung in die alltäglichen Lebensrealitäten von Menschen heute hinein, die ethnographisch erkundet werden. Von diesen Lebensrealitäten her entstehen kritische und kreative Impulse für andere, neue Sprech-Denk- und Gestaltungsweisen von Theologie, die Theologie in den Zeichen der Zeit relevant werden lässt. Ein solches Denken ist keine Einbahnstraße, sondern entdeckt und entwickelt Theologie in einer Vielzahl von Bezügen, in offenen Konstellationen zwischen Lebenserfahrungen, Diskursbeständen, Glaubensformen. Entsprechend lautete der Titel der Habilitation: „Konstellative Pastoraltheologie“ (2017).

Weitere Links zu Christian Bauer und seiner Theologie