Ist Religion gesellschaftlich wirklich unhintergehbar?

Autor/innen

  • Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr

DOI:

https://doi.org/10.17879/zts-2024-8755

Schlagworte:

Religion, Evolution, Systemtheorie

Abstract

Volkhard Krech entfaltet am Beispiel der Evolution von Religion einen beeindruckenden soziologischen Grundriss. Beeindruckend in der theoretischen Geschlossenheit, mit der er ein auf Systemtheorie und Semiotik basierendes Modell von Anfang bis Ende durchspielt. Beeindruckend aber auch im Reichtum archäologischer, anthropologischer und religionshistorischer Bezüge, mit denen er das Modell auf Religion, ihre Potenziale und deren Entfaltung bezieht. Und beeindruckend schließlich in dem Mut – oder vielleicht besser: der Chuzpe – mit der er ein Buch schreibt, das die Evolution der Religion noch vor ihre Anfänge – also zu ihrem Potenzial vor ihrer Entfaltung – zurückverfolgt, fast bis hinein in die Gegenwart. Dies erinnert an Luckmanns (Luckmann 1991) – dabei an Schütz anschließenden – Vorschlag, Religion aus der Fähigkeit des Menschen, das hier und jetzt zu transzendieren, zu begründen. Auch dort ging es um das Potenzial des Menschen, Religion zu entwerfen, weil er immer schon einen Blick über sich selbst hinauswerfen kann. Was ist hinter der Tür? Wie geht es dort weiter? Was war gestern und wie wird oder könnte es morgen sein? Soziologen wagen solche großen Entwürfe seit Weber kaum noch, wenn sie sie nicht gar verwerflich oder allzu spekulativ finden, und viele Religionswissenschaftler dürften den systematischen Zugriff wohl als Übersystematisierung empfinden. Aber: Gibt es nicht genügend Forschungsliteratur, in der eng geschnürte Thesen anhand von Daten, die in ihrer Aussagekraft extrem reduziert sind, begründet werden? Manche nennen dies euphemistisch ›elegante‹ Theoriebildung. An großen Entwürfen, die den Blick über das Hier und Jetzt hinaus öffnen und gerade darin nicht nur den historischen, sondern auch den Denkhorizont öffnen, mangelt es. Volkhard Krech hat es gewagt und sich damit angreifbar gemacht. Deshalb: Chuzpe. Und deshalb: Chapeau! Man kann nur ahnen, was in den angekündigten drei weiteren Bänden folgen wird, zu denen das vorliegende Buch eine »kurze und kompakte Fassung« sein soll, die »wo immer möglich auf überflüssigen Theoriejargon« (Krech 2021: 13) verzichtet, wie es in
der Vormerkung heißt. Aber man lasse sich nicht täuschen: Es ist ein durch und durch theoretisches und auch theoriesprachlich verfasstes Buch, aber dadurch, dass es reich ist an historischem Material aller Art, seien es Texte oder Bilder, ist es lesbar für alle an Religion und an Systemtheorie Interessierten. So muss man das Publikum wohl charakterisieren – aber auch einschränken.
Weil das Buch eine hohe Geschlossenheit aufweist, die die Entwicklung religiöser Phänomene als Evolution systematisiert und damit auch in gewisser Weise als solche konstruiert, und das zudem durch seine Materialkenntnis besticht, fällt es nicht leicht, einen kritischen Zugang zu finden. Ich will mich im Folgenden auf vier Punkte begrenzen. Der erste hat etwas mit dem Anschluss an vorliegende Theorierichtungen und Forschungen zu tun. Der zweite bezieht sich auf den von der Systemtheorie ererbten Funktionalismus, insbesondere auf die Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion von Religion. Beim dritten Punkt geht es um die handlungstheoretische Erweiterung der Systemtheorie in der jüngeren Zeit und damit auch um die Frage nach Ursachen. Und der vierte Punkt schließlich bezieht sich auf die Bedeutung von Personen – oder besser vielleicht: von Individuen – im Rahmen der religiösen Evolution.

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Veröffentlicht

2025-07-10

Zitationsvorschlag

Wohlrab-Sahr, M. (2025). Ist Religion gesellschaftlich wirklich unhintergehbar?. Zeitschrift für Theoretische Soziologie, 13(1). https://doi.org/10.17879/zts-2024-8755