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Nimet Seker

Man merkt, dass hier noch alles am Anfang steht. Ein kleiner DIN-A5-Zettel, per Hand geschrieben, weist provisorisch am Eingang eines mehrstöckigen Bürogebäudes den Weg: "Centrum für Religiöse Studien, zweiter Stock". Nach knapp einem Jahr Vorbereitung steht das Graduiertenkolleg Islamische Theologie in den Startlöchern. Die ersten sieben Doktoranden des von Islam-Experten Prof. Mouhanad Khorchide koordinierten Kollegs sind ausgewählt. Zwei von ihnen kommen nun an die Universität Münster. Eine von ihnen ist Nimet Seker.

Ab Oktober wird die 31-Jährige zweimal die Woche von Köln nach Münster pendeln, um ihre Promotion voranzutreiben. Darin setzt sie sich mit der Koranhermeneutik aus feministischer Perspektive auseinander – sie erarbeitet geschlechtergerechte Zugänge zum Koran. Die These, die der Arbeit zugrunde liegt: "Zumindest normativ betrachtet haben Frauen und Männer im Islam die gleichen Rechte", erklärt Nimet Seker. "Man muss zum Beispiel das Ehe- und Erbrecht komplementär sehen und auch die Umstände der Entstehung des islamischen Rechts berücksichtigen. In einigen Teilen ist die Frau privilegiert, in anderen der Mann."

Sicherlich gebe es im islamischen Recht frauenfeindliche Stellen. Doch der Koran als Quelle des islamischen Rechts spreche eine andere Sprache. "Die Teile, die Frau und Mann vor Gott spirituell gleich stellen, sind viel stärker vertreten. Es ist häufiger die Rede davon, dass Eheleute sich mit Liebe und Respekt begegnen sollen und das in einer sehr poetischen Sprache." Nimet Seker unterscheidet zwischen dem koranischen und dem theologischen Diskurs und den existierenden Gesellschaftspraktiken. Ihrer Meinung nach wird der Koran in vielen islamisch geprägten Ländern ohne jegliche Legitimation als Machtinstrument missbraucht.

Die Doktorandin ist praktizierende Muslima. Sie trägt ein türkisfarbenes Kopftuch. Ihr Gesicht ist dezent geschminkt, am Ringfinger trägt sie einen Silberring. Religion, Politik und Wissenschaft kann die türkischstämmige Kölnerin gut trennen. "Für mich hat das Kopftuch keine politische Bedeutung", sagt sie. Es sei ein Kleidungsstück – mehr nicht. Die Doktorandin schmunzelt: "Das Kopftuch ist meine Frisur."
Die türkischstämmige Deutsche wurde religiös erzogen. Ihr Vorname, Nimet, heißt übersetzt "Segen Gottes". In den 1970er Jahren kamen die Eltern aus Sivas (Zentralanatolien) als Gastarbeiter nach Deutschland. Die Familie lebte in einfachen Verhältnissen. Der Vater arbeitete in einer Kunststofffirma, die Mutter betreute zuhause die vier Kinder. Bildung war innerhalb der Familie anfangs kein großes Thema. Die Eltern planten ohnehin lange Zeit, wieder in die Türkei zurückzugehen – doch die Kinder wollten bleiben. "Jetzt sind sie unheimlich stolz", erzählt sie. "Wir haben alle studiert, alle sind berufstätig – das war schon ein harter Kampf."

"Es geht mir nicht um die Aufarbeitung meiner eigenen Identität."


Nimet Seker studierte Islamwissenschaften, Germanistik und Ethnologie in Köln. Sie arbeitet als Redakteurin für das Islamportal Qantara.de und als Lehrbeauftragte am Orientalischen Seminar der Uni Köln. Außerdem ist die Doktorandin Herausgeberin des Magazins "Horizonte. Zeitschrift für muslimische Debattenkultur". Was treibt sie zu so viel Engagement? "Es geht mir nicht um die Aufarbeitung meiner eigenen Identität", betont die 31-Jährige. Sie gibt sich pragmatisch: "Ich kann die Welt nicht verändern, aber ich kann ein Stück daran arbeiten." Daher möchte sie mit ihrer Doktorarbeit die wissenschaftliche Debatte um das Verhältnis der Geschlechter im Koran erweitern.

Und trotzdem: Der persönliche Bezug Nimet Sekers zu Genderthemen und der Problematik der Gleichstellung von Frauen ist nicht von der Hand zu weisen. "Ich habe mich im Berufsleben oder bei der Wohnungssuche daran gewöhnt, davon auszugehen, dass etwas nicht klappt", erzählt sie. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA sei es schlimmer geworden. "Es sind drei Dinge, die den Alltag oft erschweren: Ich bin eine Frau, gehöre einer Minderheit an, die zudem mit einem Stigma belegt ist."

Die Doktorandin sieht ihre Zukunft in der Wissenschaft. Münster ist in dieser Hinsicht attraktiv: Nicht zuletzt wegen der Pionierarbeit der WWU in der Islamlehrer-Ausbildung hat das Bundesministerium die Universitäten Münster, Osnabrück und Tübingen ausgewählt. Das Graduiertenkolleg wurde im Dezember 2010 von der Stiftung Mercator auf den Weg gebracht und für die Laufzeit von sechs Jahren mit 3,6 Millionen Euro ausgestattet. Nimet Seker setzte sich im Bewerbungsverfahren gegen mehr als 60 Bewerber, rund ein Drittel von ihnen weiblich, durch. Sie ist gespannt auf ihre Zeit an der WWU, will die islamische Wissenschaftsgeschichte weiter erforschen. "Wissenschaft ist nicht nur meine Arbeit, sondern auch mein Hobby", erklärt sie. "Am Ende des Studiums hat man das Gefühl, gerade erst sein Grundstudium abgeschlossen zu haben – und das wird bei der Doktorarbeit sicherlich ähnlich sein."

Christina Moebus

Noha Abdel-Hady (Hamburg): Islamisch-feministische Theologie im Bereich der frauenbezogenen Rechtswissenschaft.
Hureyre Kam (Frankfurt): Die Methodologie Abu Mansur al-Maturidis.
Tolou Khademalsharieh (Münster): Drei frühe Koranhandschriften und ihr Beitrag zur frühen Textgeschichte des Korans.
Serdar Kurnaz (Frankfurt a.M.): Ableitungsregeln im klassisch-islamischen Recht – die Spannung zwischen Offenbarung, Sprache, Text, Verstehen und Gesetzgebungskompetenz.
Ufuk Topkara (Paderborn): Die ästhetische Selbststilisierung im Islam als Geste der Zuweisung eines Raums für Gott im Leben des Gläubigen.
Fahima Ulfat (Erlangen-Nürnberg): Die subjektiv-relative Wertdimension als Schlüssel zum Gottesbild bei muslimischen Kindern – eine empirische Studie.