Digitale Philologie und der Text des Neuen Testaments

Interview mit Kirchenhistoriker Prof. Dr. Holger Strutwolf über digitale Ausgabe des Neuen Testaments und neue Erkenntnisse

Prof. Dr. Holger Strutwolf
© Bibelmuseum

Über 5.700 griechische Handschriften des Neuen Testaments, die sich alle voneinander unterscheiden, auszuwerten, um den ältesten erreichbaren Text dieser Schriftensammlung zu erschließen, ist eine Aufgabe, die ohne digitale Instrumente, Datenbanken und Programme nicht möglich ist. Wie heute eine digitale Ausgabe des Neuen Testaments erstellt wird und welche neuen Erkenntnisse sich daraus ergeben, war Gegenstand des Vortrags am 7. November 2023. Das Publikum gewann einen Einblick in die Werkstatt des Instituts für Neutestamentliche Textforschung.

Interview mit Prof. Dr. Holger Strutwolf zum Werkstattbericht „Digitale Philologie und der Text des Neuen Testaments“.

Was ist der Gegenstand Ihres DH-Projektes am Exzellenzcluster, und welche Frage soll es mittels DH-Methoden beantworten?

Da das Neue Testament in über 5.700 griechischen Handschriften überliefert ist, die alle voneinander abweichen, ist es notwendig, die Gesetzmäßigkeiten der Überlieferung zu kennen. So kann man entscheiden, welcher Text ursprünglich ist und welcher eine spätere Entwicklung repräsentiert. Durch die vollständige Auswertung aller relevanten Handschriften mittels einer neuen computergestützten Methode können diese Prozesse zum ersten Mal sozusagen „empirisch“ erforscht werden.

Wie sehen die DH-Methoden konkret aus, wenn Sie sie in Ihrem Projekt anwenden?

Wir benutzen die so genannte „Kohärenzbasierte genealogische Methode“ (englisch: Coherence Based Genealogical Method, kurz: CBGM), die es zum ersten Mal in der Geschichte der neutestamentlichen Textforschung ermöglicht, die Gesamtüberlieferung des griechischen Neuen Testaments genealogisch, d.h. wie in einem Handschriftenstammbaum, zu beschreiben. Diese Methode setzt digitale Abschriften aller relevanten Handschriften voraus, die digital miteinander verglichen werden. Das Ganze ist Teil des Projekts „Novum Testamentum Graecum. Editio critica maior“, das von Anfang an ein digital arbeitendes Unternehmen war und für das im Laufe der Zeit eine Palette von digitalen Werkzeugen und Datenbanken entwickelt wurde: Von der Erstellung einer digitalen Handschriftenliste über die Digitalisierung von Handschriftenfotos und deren digitale Auswertung bis hin zu einer kritischen digitalen Ausgabe des Neuen Testaments.

Wie werden oder wurden diese Methoden entwickelt?

Die CBGM wurde am Institut für Neutestamentliche Textforschung speziell für die Erforschung der Überlieferung des Neuen Testaments entwickelt und wird im Rahmen des Clusterprojekts systematisch weiterentwickelt, um die Frage, wie sich verschiedene Varianten und Textformen auseinander entwickelt haben, auf der Basis des Gesamtmaterials zu untersuchen. Viele andere Programme und digitale Werkzeuge wurde im Laufe des Projekts zusammen mit Partnerprojekten entwickelt.

Welche Ergebnisse liegen bereits vor, welche erwarten Sie? Wie sähe dieselbe Forschungsarbeit ohne DH-Methoden aus?

Im Rahmen des Exzellenzclusters haben wir eine vorliegende Datenbank mit allen Abweichungen, die in ca. 160 ausgewählten Handschriften der Apostelgeschichte enthalten sind, genauer untersucht. Es handelt sich um mehr als 60.000 Worteinträge, deren einzelne Formen wir jeweils bestimmt haben, also z.B., ob es sich um ein Verb, ein Nomen oder eine Präposition handelt, ob Singular oder Plural, Maskulin, Feminin oder Neutrum, Imperfekt, Aorist (zusätzliche Vergangenheitsform) oder Perfekt, 1. Person, 2. Person usw. Wir können zum ersten Mal Fragen stellen, die die Häufigkeit von Überlieferungsphänomenen betreffen: z.B. Welche Wortarten wurden am häufigsten verändert? Welche Tendenzen der Veränderung lassen sich feststellen? Neigen die Abschreibenden dazu, Texte zu kürzen oder eher auszuschmücken? Wir können jetzt genaue Statistiken erstellen und so unsere Vermutungen bestätigen oder widerlegen. Es erscheint ohne DH-Methoden kaum möglich, diese Menge an Einträgen in dieser Hinsicht auszuwerten. Schwer vorzustellen, ob derartige Fragestellungen ohne DH-Methoden überhaupt in Angriff genommen worden wären. Es mussten also im Rahmen des Projektes zahlreiche Computerprogramme und Datenbankroutinen entwickelt werden, die es zum ersten Mal erlauben, diese Fragen zu beantworten. Diese Programme stehen auch der wissenschaftlichen Gemeinschaft außerhalb des Projekts zur Verfügung, um das von uns gesammelte Material mit eigenen Fragestellungen eigenständig zu untersuchen.

Wir wollen selbst nun auf Basis der bisher geleisteten Vorarbeiten zwei Fragen genauer untersuchen: Wenn wir solche Statistiken auch für die einzelnen Handschriften erstellen, können wir dann bestimmte Schreiber, Orte oder Zeiten bestimmen, durch die die Überlieferung in besonderer Weise beeinflusst wurde? Und: Wie können wir Textvarianten erfassen, die theologisch-inhaltliche Änderungen signalisieren?           

Worin liegt die heutige gesellschaftliche Relevanz dieser Forschungsarbeit, worin liegt diesbezüglich der Wert der DH-Methoden?

Das Neue Testament ist nicht nur die Grundurkunde des christlichen Glaubens, sondern auch eine wichtige und unverzichtbare Quelle zum Verständnis der europäischen und außereuropäischen Kulturen. In seiner Überlieferungsgeschichte sind nicht nur gesellschaftliche, politische und religiöse Entwicklungen stark von dieser Schriftensammlung beeinflusst worden, sondern sie haben auch große Auswirkungen auf die Überlieferung gehabt. So ist weder die Geistesgeschichte Europas und anderer christlich beeinflusster Länder ohne die Kenntnis der Überlieferungsgeschichte des Neuen Testaments zu verstehen noch die Geschichte der Bibel ohne die historischen Einflüsse, unter denen diese stand.

Die Einbindung der Bibel und ihrer Überlieferung in gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungsprozesse, also ihre Zeitbedingtheit zu verstehen, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dem fundamentalistischen und unkritischen Gebrauch der Heiligen Schriften entgegenzuwirken. (exc/pie)