„Entzauberung“ von Bibel und Koran

Thomas Kaufmann und Angelika Neuwirth über Stellenwert und Auslegung der heiligen Texte

Prof. Dr. Thomas Kaufmann, Prof. Dr. Angelika Neuwirth, Dr. Iris Fleßenkämper, Dr. Bernd Busch (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung) (v.r.n.l.)
Prof. Dr. Thomas Kaufmann, Prof. Dr. Angelika Neuwirth, Moderatorin Dr. Iris Fleßenkämper, Dr. Bernd Busch (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung) (v.r.n.l.)
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Der Kirchenhistoriker Prof. Dr. Thomas Kaufmann und die Arabistin Prof. Dr. Angelika Neuwirth haben am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ über den Umgang von Christen und Muslimen mit Bibel und Koran diskutiert. Auf Einladung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und des Exzellenzclusters sprachen sie in Münster über Stellenwert, Auslegung und Übersetzung dieser Texte und über die unterschiedlichen Auffassungen, die darüber in den Religionen in der Geschichte und Gegenwart herrschten und herrschen. Sie erörterten auch die Textentstehung und Kanonisierung, die Entstehung verbindlicher Fassungen von Bibel und Koran. Dabei nahmen sie verschiedene exegetische Traditionen beider Religionen und die Rolle institutionalisierter Autoritäten in den Blick.

In einem kurzen Vortrag skizzierte Thomas Kaufmann die historische Entwicklung des christlichen Bibelverständnisses bis in die Zeit der Reformation. Das Christentum habe vom Judentum nicht nur die heiligen Schriften als Altes Testament übernommen, sondern auch „die im antiken Judentum selbstverständliche Offenheit für Übersetzungen.“ Der Kirchenhistoriker führte aus, wie seit der Antike die Bibel in lateinischer Sprache zunehmend zu einem „Herrschaftsinstrument der römisch-katholischen Klerikerkirche“ geworden sei. Später habe Luther durch seine Interpretation und Übersetzung in revolutionärer Weise „Partizipation und Einmischung ermöglicht“.

„Instrument des Zaubers“

Angelika Neuwirth stellte den Koran einleitend als Text der Spätantike vor, der im Kontext seiner Entstehungszeit betrachtet werden müsse. Das „Wort“ sei daherim Koran ein „Instrument des Zaubers“, das die Realität einbette „in ein signifikantes Vorher, die Schöpfungszeit, und ein signifikantes Nachher, die Endzeit“. Diese „Verzauberung der Welt“ verleihe dem Menschen einen neuen Status, „er genießt ‚ein doppeltes Bürgerrecht, nämlich im Diesseits und im Jenseits‘“. Die Arabistin äußerte den Eindruck, dass eine „Entzauberung“ des heiligen Textes in der Moderne, wie Max Weber es formuliert hat, „im Islam nicht noch ganz so weit fortgeschritten“ sei und „dass die transzendente Einbettung der Welt hier immer noch Quelle der spirituellen Erfüllung der Gläubigen ist.“

Die Wissenschaftler erörterten auf dem Podium, wie verbindliche Fassungen der heiligen Texte entstanden. Dabei legte Prof. Neuwirth dar, dass auch der Koran historische Stufen der Textentstehung erkennen lasse wenn auch in weit geringerem Maße als die Bibel. Prof. Kaufmann unterstrich, dass die christlichen Konfessionen den Kanon der biblischen Bücher bis heute nicht völlig einheitlich sehen. Sie nahmen auch die Vorstellung der Verbalinspiration des Koran kritisch in den Blick, der zufolge der Text unmittelbar von Gott gesprochen sei. Die Wissenschaftler diskutierten, inwieweit eine historisch-kritische Auslegung der heiligen Texte zu deren „Entzauberung“ beitrage und welche Auswirkungen dies auf die Frömmigkeit der Gläubigen haben könne.

Spannungsfeld von Text und Religion

Das öffentliche Podium „Arbeit am Text – Tora, Bibel und Koran“ war Teil der bundesweiten Veranstaltungsreihe „Wo das Wort ist, da tappe nach“ (Luther), die die Akademie im Rahmen des Jubiläumsprogramms „Luther 2017“ veranstaltet. Gefördert wird die Reihe durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur. Die Historikerin Dr. Iris Fleßenkämper vom Exzellenzcluster moderierte den Abend.

Prof. Dr. Thomas Kaufmann, Prof. Dr. Angelika Neuwirth, Moderatorin Dr. Iris Fleßenkämper (v.l.n.r.)
Prof. Dr. Thomas Kaufmann, Prof. Dr. Angelika Neuwirth, Moderatorin Dr. Iris Fleßenkämper (v.l.n.r.)
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Die Veranstaltungsreihe „Wo das Wort ist, da tappe nach“ (Luther) im Rahmen des Programms „Luther 2017“ beschäftigt sich in insgesamt vier Veranstaltungen mit dem Spannungsfeld von Text und Religion. Die ersten beiden Veranstaltungen in Darmstadt und München befassten sich mit religiöser Toleranz in der Literatur und mit vergleichenden Überlegungen zur religiösen und zur poetischen Inspirationskraft. In Münster standen die sakralen Schriften der drei monotheistischen Religionen im Mittelpunkt. Der ebenfalls eingeladene Judaist PD Dr. Ottfried Fraisse aus Halle war wegen Unwetterschäden kurzfristig verhindert.

Zum Abschluss der Reihe geht es am 19. Oktober in Köln um die ästhetische Kraft religiöser Texte unter dem Titel „Die Schönheit des Gotteswortes“. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung mit Sitz in Darmstadt widmet sich der Pflege und Förderung der deutschen Sprache. Sie vergibt jährlich mit dem Georg-Büchner-Preis einen der renommiertesten Literaturpreise im deutschen Sprachraum. (ill/vvm)