„Kapitalismuskritik der Kirchen erlebt Renaissance“

Exzellenzcluster untersucht religiöse Einflüsse auf Wirtschaftsordnungen – Gastredner Friedhelm Hengsbach über kapitalismuskritische Denker

Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 31. Januar 2014

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Prof. Dr. Matthias Casper

Die Kapitalismuskritik der christlichen Soziallehre erlebt nach Einschätzung von Wissenschaftlern des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ angesichts der Wirtschaftskrise in Europa eine Renaissance. Während es um die Katholische Soziallehre und die Evangelische Sozialethik und ihre Kapitalismuskritik über Jahrzehnte ruhig geblieben sei, finde sie nun in verschiedenen politischen Kreisen und weiten Teilen der Bevölkerung wieder Anklang, sagt Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Matthias Casper. „Partei- und milieuübergreifend üben Menschen Kritik an der Idee eines unbegrenzten Wachstums und an der sozialen Härte und Ungerechtigkeit des neoliberalen Kapitalismus.“ Solche Positionen würden nicht mehr nur von Seiten der politischen Linken geäußert und weithin wahrgenommen. Vielmehr habe Papst Franziskus mit dem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ (Freude des Evangeliums) der Debatte einen entscheidenden Schub gegeben und viele Sympathiebekundungen für seine Position ausgelöst.

Mit Traditionen der protestantischen und katholischen Kapitalismuskritik im 20. Jahrhundert befasst sich die erste Tagung des Forschungsschwerpunkts „Religion und Wirtschaft“, den der Exzellenzcluster 2012 eingerichtet hat und dessen Koordinator Prof. Casper ist. Auf der interdisziplinären Veranstaltung untersuchen Theologen, Juristen und Historiker „Religiöse Einflüsse auf Wirtschaftsordnungen in der Zwischen- und Nachkriegszeit“. Unter den Referenten ist der bekannte Sozialethiker Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach aus Ludwigshafen sowie Prof. Dr. Werner Abelshauser von der Universität Bielefeld, einer der bekanntesten Vertreter der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Deutschland. In der Zwischen- und Nachkriegszeit setzte sich die Soziale Marktwirtschaft durch, die stark von der Katholischen Soziallehre und der Evangelischen Sozialethik beeinflusst wurde.

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Kurz vor dem Börsencrash

„Viele Thesen aus der Hochphase der Soziallehre in den 1920er und 1930er Jahren sind weiterhin gültig“, unterstreicht Prof. Casper. Als Beispiel nennt er die Studie „Grundzüge der Börsenmoral“, die Jesuit und Ökonom Oswald von Nell-Breuning 1928, ein Jahr vor dem großen Börsencrash, veröffentlichte. „Die Forderung Nell-Breunings, dass der Börsenhandel der gesamten Volkswirtschaft nützen müsse, ist heute, wo wir über Leerverkäufe und Spekulation diskutieren, hoch aktuell.“

Die Zwischen- und Nachkriegszeit in Deutschland sei wie die Gegenwart von Umbrüchen geprägt gewesen, sagt der Experte für Wirtschaftsrecht. In solchen krisenhaften Phasen würden Fragen der Wirtschaftsethik und unterschiedliche Modelle der Wirtschaftsordnung intensiv diskutiert. „Letztendlich hat sich in der Bundesrepublik mit der Sozialen Marktwirtschaft eine Wirtschaftsordnung durchgesetzt, die – obgleich vom Ökonom Alfred Müller-Armack erst nach dem Zweiten Weltkrieg so benannt – auf Konzepten und Überlegungen aus der Zwischenkriegszeit fußt.“ Zu den Konzepten zählten neben dem Ordoliberalismus die wirtschaftsethischen Überzeugungen der Kirchen, also die Katholische Soziallehre und die Evangelische Sozialethik.

Mit Blick auf das Apostolische Schreiben „Evangelii gaudium“ fügte Prof. Casper hinzu, der Vatikan habe sich lange Zeit in Wirtschaftsfragen zurückgehalten. „Unter Verweis auf die Kirchenlehre kritisiert Papst Franziskus nun zwar nicht die Marktwirtschaft an sich, doch eine Gewinnmaximierung um jeden Preis. Nicht das Geld, sondern der Mensch solle im Mittelpunkt stehen.“ Als Fundament einer neuen Wirtschaftsordnung könne das Schreiben nicht dienen, jedoch als Anstoß für fundamentale Fragen der Wirtschaftsethik.

Zu der Fachtagung lädt die Koordinierte Projektgruppe „Religiöse Einflüsse auf wirtschaftliche Ordnungen und Handlungen“ des Exzellenzclusters ein. Die Veranstaltung beginnt am 6. Februar um 9:30 Uhr im Alexander von Humboldt-Haus, Hüfferstraße 61, in Münster. Interessierte können sich unter rel.einfluesse@uni-muenster.de anmelden. (ska/vvm)