Teilprojekt 1:

Ethische Probleme bei Randomisierten Klinischen Studien

Projektleiterin: Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert



Zielsetzung und Konzeption:


Hintergrund und Problematik
Randomisierte kontrollierte Studien (Randomised Controlled Trials: RCTs) gelten generell als Goldstandard der klinischen Forschung. Der Nachweis überlegener Wirksamkeit in RCTs ist bindende Voraussetzung für die Zulassung von Arzneimitteln, aber auch dafür, dass eine neue oder veränderte medizinische Maßnahme – der Therapie, Diagnostik, Prävention oder Palliation – von der Medizinerprofession zu einem gegebenen Zeitpunkt als bestmögliche anerkannt wird. Nur so kann sie nach den Kriterien der Evidenzbasierten Medizin (EBM) der höchsten Signifikanzstufe zugeordnet werden. Die Zahl der durchgeführten RCTs nimmt daher stetig zu – im vergangenen Jahr wurden in Deutschland allein ca. 1000 klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln (Phase II und III) durchgeführt (www.bfarm.de). Wie für alle Versuche an Menschen gilt auch für RCTs, dass sie rechtlich und ethisch nur dann akzeptabel sind, wenn sie einerseits mit der informierten Einwilligung der Probanden erfolgen (von der Sonderproblematik stellvertretender Einwilligung bei nicht-einwilligungs-fähigen Personen sei hier abgesehen) und andererseits eine auch „objektiv“ akzeptable Risiko-Nutzen-Bilanz aufweisen. Diese muss von den konzipierenden, ausführenden oder beteiligten Ärzten und Forschern selbst, aber auch – kontrollierend – von einer Ethikkommission beurteilt werden.
Besondere ethische Schwierigkeiten macht die Akzeptabilitätsprüfung von RCTs dann, wenn es sich um Therapie-Studien für Patienten handelt, die an einer nicht-trivialen Krankheit leiden, welche durch das zu testende neue Verfahren (das „Verum“) deutlich besser als bisher oder in Extremfällen sogar erstmals wirksam behandelbar zu sein verspricht. Einen paradigmatischen und viel kritisierten solchen Extremfall stellten die ersten Anti-AIDS Medikamenten-Studien der 90er Jahre dar (vgl. Angell 1997; Schüklenk 1998). Hier scheint es einerseits hochproblematisch, den Kranken, die in den Vergleichsarm (mit bisheriger, unbefriedigender Standardtherapie oder – falls eine solche nicht existiert – mit Placebo) randomisiert werden, die potentiell wirksame Behandlung vorzuenthalten. Andererseits scheint nur durch einen RCT sichergestellt werden zu können, dass das Verum wirklich – ohne Bewertungs-Bias oder inakzeptable Nebenwirkungen – signifikant wirksam/ überlegen ist.
In den forschungsethischen Debatten über dieses Problem wurde in den 70er und 80er Jahren die Forderung nach „Equipoise“ gegenüber beiden Randomisierungs-Armen zum weithin akzeptierten Standard. Schon damals gab es allerdings konkurrierende Interpretationen dieses Prinzips: Während die einen darunter die „Unentschiedenheit des behandelnden Forschers/ Arztes über die Vorzugswürdigkeit der Studienarme“ (Fried 1974) verstanden, forderten andere stattdessen „klinische“ oder „Community“-Equipoise im Sinne eines „qualitativen Dissenses innerhalb der relevanten Expertengruppe“ über die Vorzugswürdigkeit der Studienarme (Freedman 1987). Insbesondere das letztgenannte, weitere Konzept von Equipoise schien als ein „Brückenprinzip“ zwischen der klinischen Versorgung von Patienten mit der ethischen Forderung nach optimaler individualisierter Behandlung und der medizinischen Forschung fungieren zu können. Ob es allerdings eine taugliche Brücke bildet, ist höchst strittig (Miller, Brody 2003).
Eine von vielen Autoren akzeptierte Implikation des Equipoise-Prinzips ist die ethische Unzulässigkeit eines Placebo-Arms dann, wenn es bereits eine wirksame und hinreichend sichere Behandlungsoption gibt (und also eine Placebo-Gabe nicht mehr als potentiell vorzugswürdig angesehen werden kann). Die Tatsache, dass faktisch aber immer wieder Placebo-Versuche genehmigt und durchgeführt werden, die gegen dieses Prinzip verstoßen, wird von manchen Ethikern angeprangert (vgl. Michels, Rothman 2003). Andere hingegen beurteilen diese „Verstöße“ als unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich zulässig und zweifeln nicht zuletzt deshalb das Equipoise-Prinzip an (Miller, Brody 2003). Interessanterweise hat auch der Weltärztebund sein bisheriges striktes Verbot von Placebo-Gaben bei Vorhandensein wirksamer Behandlungsmöglichkeiten gelockert: Der entsprechende § 29 der Deklaration von Helsinki hat in der letzten Überarbeitung (2004) eine Ausnahmeklausel als Fußnote erhalten.
Die neuerlich international geführte Debatte über angemessene ethische Standards für RCTs und über die Gemeinsamkeiten oder Unterschiede von Arzt- und Forscherethik (Maschke 2005: "emerging discourse that challenges the core assumptions, concepts, and principles of research ethics") soll in diesem Projekt systematisch und kritisch aufgearbeitet werden. Plausibel scheint es dabei, deskriptiv wie evaluativ zwischen den verschiedenen Ebenen zu differenzieren, auf denen über Aspekte der Akzeptabilität von RCTs zu entscheiden ist, nämlich:
1. der grundsätzlichen Entscheidung über die Durchführung einer konkreten Studie. Hier wird zugunsten eines Community Equipoise-Prinzips u. a. angeführt, dass es üblicher ärztlicher Indikationsstellung entspreche, und insbesondere auch in der relevant analogen Beurteilung von fraglichen ärztlichen Kunstfehlern verwendet werde. Andere halten es für unangemessen/ unrealistisch scharf. Zu recht würden viele RCTs dieses Kriterium nicht erfüllen – etwa weil die Datenlage (durch theoretische Überlegungen, in-vitro- und Tierversuche) vor Beginn der Studie oft schon deutlich zugunsten des Verums spreche („design bias“ vgl. Fries, Krishnan 2004), was im Übrigen eine Voraussetzung für große Sponsor-Investitionen sein könne. Manche Autoren schlagen daher vor, Equipoise durch ein präzisiertes schwächeres Prinzip der Unsicherheit oder Ignoranz zu ersetzen (vgl. London 2001) oder es überhaupt nicht an epistemische Zustände, sondern an Prinzipien der Fairness, Nicht-Ausbeutung, minimalen Belastung oder des informed consent zu binden (z. B. Miller, Brody 2003; ausführlich und kritisch: Jansen 2005).
2. der ärztlichen Empfehlung, dass ein konkreter Patient an dieser Studie teilzunehmen erwägen solle. Hier reichen die Vorschläge von der Forderung nach (idiopathischer) Equipoise aus der Sicht des empfehlenden Arztes (Fried 1987; vgl. dazu Menikoff 2003 und Miller, Weijer 2003), über Community Equipoise (Gifford 1995; Miller, Weijer 2003), u. U. ergänzt durch kontextsensitive Beurteilungen (vgl. Ashcroft 1999) bis hin zur Anerkennung einer ethischen Aporie wie sie durch die unauflösliche Spannung zwischen Arztethik und Forscherethik entstehe (vgl. Wiesing, Marckmann 2004). Manche Autoren sind der Auffassung, die „Vermischung“ der ethischen Standards für Ärzte einerseits und medizinische Forscher andererseits führe potentiell zur Ausbeutung von Patienten/ Probanden sowie zu unnötigen Beschränkungen der Forschung (Miller, Brody 2003). Sie schlagen vor, die Zulässigkeit von RCTs alternativ an einer Norm der Anti-Ausbeutung von Patienten zu orientieren – ein Vorschlag, der gegenwärtig intensiv diskutiert wird (vgl. Jansen 2005).

Ein anderes Teilproblem wird darin gesehen, dass individuelle Ärzte in manchen RCTs erkennen können, dass es ihrem individuellen Patienten in „seinem“ Randomisierungs-Arm vergleichsweise schlecht geht (vgl. Gifford 2000). Verpflichte nicht das Prinzip der ärztlichen Fürsorge den Arzt/Forscher in dieser Situation dazu, seinem Patienten den Ausstieg aus der Studie zu empfehlen – auch wenn das dieser zum Nachteil gereicht?
3. der Entscheidung eines konkreten Patienten über seine Teilnahme an der konkreten Studie. Auf dieser Ebene geht es um Fragen der angemessenen Aufklärung über Unsicherheiten und Evidenzstandards bei der Beurteilung beider Randomisierungsarme und dabei nicht zuletzt um die Bewertung direkter therapeutischer Hoffnungen oder „Opfer“ und indirekter therapeutischer Gewinne durch den Studienteilnehmer selbst. Während die Forschungsethik traditionell den Patienten/ Probanden-Schutz zum Gegenstand ihrer normativen Forderungen gemacht hat, finden manche Experten diesen Schutz inzwischen stellenweise ungerechtfertigt strikt – zum Schaden des medizinischen Fortschritts. So schlägt David Orentlicher vor, die (offenbar zunehmende) mangelnde Bereitschaft von Patienten, sich für kontrollierte klinische Vergleichsstudien zweier etablierter Therapien (in Equipoise) rekrutieren zu lassen, durch eine bedingte Teilnahme-Verpflichtung zu konterkarieren. Ein Arzt-Forscher solle die Behandlung eines potentiellen Studienteilnehmers in solchen Fällen an dessen Bereitschaft zur Teilnahme binden – oder ihn an einen Kollegen weiterleiten – dürfen (Orentlicher 2005). Dieser Vorschlag stößt erwartungsgemäß nicht auf ungeteilte Zustimmung (vgl. Maschke 2005).

Projektziele

(1) In diesem theoretischen Teilprojekt sollen zunächst die verschiedenen ethischen Anforderungen an RCTs (Equipoise in unterschiedlichen Lesarten, Ignoranz, Unsicherheit aus verschiedenen Perspektiven, Prinzip der Nicht-Ausbeutung) begrifflich analysiert und unterschieden werden, die im internationalen Schrifttum vorgeschlagen und diskutiert werden. An dieser im Ganzen verwirrend komplexen und kontroversen Debatte sind Kliniker, Ethiker, Biomathematiker und Entscheidungstheoretiker beteiligt.

(2) Gleichzeitig ist aufzuarbeiten, welche Argumente für und wider die verschiedenen Standards vorgebracht werden. Wie überzeugend und wie besorgniserregend, so lauten hier die Kernfragen, ist die Behauptung, es gebe einen „…gap between the requirement of clinical equipoise and the practice of clinical research“ (Jansen 2005)? Gibt es überzeugende Alternativen zum (wie auch immer zu verstehenden) Equipoise-Standard?

(3) In einem weiteren Arbeitsschritt sollen internationale Forschungsrichtlinien (Deklaration von Helsinki, Good Clinical Practice Guidelines etc.) daraufhin untersucht werden, welche Standards sie empfehlen oder implizieren und wie diese dort begründet werden.

(4) In einem ergänzenden Schritt soll die Diskussion um einen das Equipoise-Prinzip gefährdenden „design-bias“ aufgearbeitet werden. Hier ergibt sich eine Möglichkeit zur befruchtenden Kooperation mit den empirischen Teilprojekten von Herrn Professor Raspe (Teilprojekt 4) und Herrn Professor Boos (Teilprojekt 2).

(5) Schließlich soll versucht werden, angemessene Standards oder zumindest Optionen für RCTs (Equipoise oder Alternativen?) und damit auch für die gegenwärtig immer wichtiger werdenden EBM-Anforderungen zu formulieren und zu begründen. Adressaten solcher Empfehlungen können Patienten, Ärzte, Forscher, Forschungsförderer und Ethikkommissionen ebenso wie der Gesetzgeber sein.