Zielsetzung und interdisziplinäre Konzeption des Forschungsverbundes
und seiner Teilprojekte


1. Hintergrund und Problematik


Das moralische Dilemma biomedizinischer Forschung am Menschen besteht darin, dass diese zwar einerseits durch das Interesse an einer Weiterentwicklung medizinischen Wissens und einer Erweiterung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten gerechtfertigt scheint, andererseits aber experimentelle Eingriffe die Patienten bzw. Probanden Belastungen und Risiken aussetzen, die nicht unbedingt (klinische Versuche) oder überhaupt nicht (nicht-therapeutische Forschung) durch therapeutische Vorteile für diese ausgeglichen werden. Neben der Forderung, dass Forschung am Menschen eine freiwillige, jederzeit widerrufbare Zustimmung (informed consent) des Patienten bzw. des Probanden voraussetzt, gehört die weitere Forderung, wonach bei einem konkreten Forschungsvorhaben immer ein angemessenes Nutzen-Risiko-Verhältnis gewährleistet sein muss, seit langem zu den grundlegenden ethischen Grundsätzen der Forschungsethik.
Im Unterschied zu einer Reihe anderer Fragen und Problemkomplexe im Zusammenhang der Forschung am Menschen (Aufklärung, informierte Zustimmung, prozedurale Aspekte der Begutachtung durch eine unabhängige Ethik-Kommission etc.) haben die Begriffe Nutzen, Schaden, Chance oder Risiko in der Diskussion über Humanexperimente bislang – zumindest in Deutschland – nicht die ihnen gebührende theoretische Aufmerksamkeit gefunden. Dies zeigt sich bereits an der eingangs zitierten geläufigen Formel vom „Nutzen-Risiko-Verhältnis“ bzw. einer „risk-benefit analysis“. Bei den beiden Begriffen des Nutzens (benefit) einerseits und des Risikos (risk) andererseits handelt es sich, wie Levine bereits 1986 feststellte, nicht um „parallel constructions“. Während der Begriff des Risikos auf zukünftige Zustände und deren Eintrittswahrscheinlichkeit zielt, fehlt beim Nutzenbegriff eine entsprechende Konnotation. Missverständlich oder gar irreführend sind die zitierten Formeln vor allem deshalb, weil selbstverständlich auch der im Rahmen eines Humanexperimentes intendierte Nutzen für den Patienten nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreffen wird: „It should be clear that, when discussing the benefits of research, one is ordinarily discussing the probability of hoped-for-benefits.“ (Levine 1986: 37)
In den zurückliegenden Jahren haben die Bewertung von Nutzen und Schaden in klinischen Studien weiter an Bedeutung gewonnen; in mancher Hinsicht sind sie sogar zu einem der zentralen Probleme avanciert. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die Anforderungen, die an den Wirksamkeits- und Verträglichkeitsnachweis zum Beispiel eines neuen Medikaments gestellt werden, ausgefeilte Studiendesigns erforderlich machen. Dies lässt sich an der avanciertesten Form klinischer Versuche, sog. randomisierten Doppelblind-Studien, gut beobachten. Randomisierte Studien sind nach herrschender Auffassung der beste Weg, zuverlässige Daten, die für optimal informierte Handlungsentscheidungen erforderlich sind, zu generieren. Nach weithin geteilter Auffassung ist die Durchführung randomisierter Studien nur unter der Bedingung moralisch akzeptabel, dass vor Beginn der Studie unsicher ist, welche der gegeneinander geprüften Behandlungsvarianten überlegen ist. Wie diese sog. Equipoise-Bedingung genauer expliziert werden muss, ist jedoch ebenso Gegenstand einer seit langem anhaltenden kontroversen Debatte wie die damit zusammenhängende Frage, ob randomisierte klinische Studien überhaupt mit der therapeutischen Verpflichtung des Arztes bzw. der Ärztin vereinbar sind (Gifford 1986; Wiesing 2004). Die systematische und kritische Aufarbeitung dieser Debatten ist Gegenstand von Teilprojekt 1, eine empirische Untersuchung der Ergebnisoffenheit randomisierter Studien Gegenstand von Teilprojekt 2.
Ein weiterer wichtiger Grund dafür, warum die Begriffe des Nutzens, des Schadens und des Risikos in das Zentrum der Diskussion über die ethische Legitimität von Forschung an Menschen gerückt sind, der zumindest für die deutschsprachige Diskussion von kaum zu überschätzender Bedeutung sein dürfte, liegt in dem Umstand, dass Forschungsvorhaben, bei denen sog. einwilligungsunfähige Patienten einbezogen werden sollen, in den zurückliegenden Jahren – ausgelöst nicht zuletzt durch die Diskussion über die Menschenrechtskonvention des Europarates zur Biomedizin (Eser 1999; Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin 2002: 417ff) – vermehrt Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Die Diskussion kreist hier, neben anderen Fragen, um die beiden Probleme, welche Risiken oder Belastungen dieser Gruppe im Rahmen sog. gruppen- bzw. fremdnütziger Forschungsvorhaben zugemutet werden dürfen (Maio 2002) und wie sich eine solche Zumutung, wenn überhaupt, moralisch und rechtlich rechtfertigen lässt. Hier plausible Antworten zu finden, nötigt dazu, die entsprechenden forschungsethischen Fragen auch mit Blick auf einwilligungsfähige Patienten bzw. Probanden zu stellen. Die Bearbeitung dieses Komplexes steht im Mittelpunkt des Teilprojekts 3, verzahnt sich aber in seinen normativen Grundlagen mit den Teilprojekten 1 und 4.

Literatur
Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin (2002): Schlussbericht. Berlin: 417ff.
Eser Albin (1999): Biomedizin und Menschenrechte. Die Menschenrechtskonvention des Europarates zur Biomedizin. Dokumentation und Stellungnahmen. Frankfurt/M.: Knecht.
Gifford Fred (1986): The Conflict between randomized clinical trials and the therapeutic obligation. In: The Journal of Medicine and Philosophy 11: 347-366.
Levine Robert J. (1986): Ethics and Regulation of Clinical Research. 2.ed. Baltimore/München: Urban & Schwarzenberg.
Maio Giovanni (2002): Ethik der Forschung am Menschen. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog.
Wiesing Urban, Marckmann Georg (2004): Forschung am Menschen: Einführung. In: Wiesing, Urban (Hrsg.): Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch. Stuttgart: Reclam: 123-130.

2. Zielsetzung des Gesamtprojektes


Das Verbundprojekt verfolgt im Wesentlichen drei Aufgabenstellungen:

(1) Erstens sollen zentrale ethische und rechtliche Begriffe der Forschungsethik analysiert und im Lichte des internationalen Schrifttums diskutiert werden. Hierzu gehören insbesondere die Begriffe des Nutzens, des Schadens, der Chance, des Risikos, der Equipoise, der Ignoranz, der Unsicherheit und andere.

(2) Zweitens soll die Relevanz, Triftigkeit und praktische Bewährung einiger dieser Begriffe empirisch gesichert bzw. eine Nutzens- und Schadenstaxonomie ausgearbeitet und validiert werden.

(3) Drittens sollen vor dem Hintergrund dieser begrifflich-theoretischen Klärungen und empirischen Untersuchungen Handlungsempfehlungen für Ethikkommissionen und (standes-)politische Gremien formuliert werden.

Im Rahmen des Forschungsverbundes ist die Bearbeitung von vier Teilprojekten vorgesehen (siehe dazu die ausführlicheren Projektskizzen):

Teilprojekt 1:
Ethische Probleme bei Randomisierten Klinischen Studien (Projektleiterin: Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert, Münster)
Teilprojekt 2:
Untersuchungen zur Realität der Equipoise in Randomisierten Klinischen Studien (Projektleiter: Prof. Dr. Joachim Boos, Münster)
Teilprojekt 3:
Normative Grundlagen der klinischen Forschung an Einwilligungsunfähigen, insbesondere an Neugeborenen und Kleinkindern (Projektleiter: Prof. Dr. Reinhard Merkel, Hamburg)
Teilprojekt 4:
Nutzen- und Schadenspotentiale von Forschungsprojekten einer Medizinischen Fakultät: eine empirische Analyse (Projektleiter: Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe, Lübeck)