Forschungsprogramm

"Braucht das Recht die Literatur?" und "Braucht die Literatur das Recht?" sind die beiden großen Grundsatzfragen des SFB 1385 "Recht und Literatur". Er dient damit der Grundlagenforschung zu zwei wirkmächtigen "kulturellen Wertsphären" (Max Weber). Obwohl diese je spezifische Formen textueller Normativität ausgebildet haben, sind sie doch in vielfältiger Weise aufeinander bezogen. Durch die interdisziplinäre Erforschung dieser Bezüge lässt sich eine Reihe fundamentaler Fragen zu Recht und zu Literatur, zu den mit ihnen befassten Disziplinen, ihren Grundbegriffen und Methoden, aber auch zu ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung neu formulieren und erforschen.

Die Kategorien Materialität, Komparativität und Konstitutivität strukturieren konzeptuell das gesamte Forschungsfeld und stellen ein erstes Forschungsergebnis dar, das im Projektverlauf weiter ausgefaltet wird. Es liefert zudem die konkrete Gliederung des Sonderforschungsbereichs in Anlage und Arbeitsablauf in die drei Projektbereiche A (Materialität), B (Komparativität) und C (Konstitutivität). Der Projektbereich A (Materialität) beschäftigt sich mit Recht in der Literatur und Literatur im Recht. Er erforscht, wie aus Literatur ein Gegenstand des Rechts und wie aus Recht ein Gegenstand von Literatur wird, und er fragt danach, welche Regularien die Auswahl von Materien leiten oder begrenzen, und welche Transformationen sich aus der 'Vergegenständlichung' ergeben. Der Projektbereich B (Komparativität) fragt nach (historischen) Ausprägungen des Vergleichs zwischen Recht und Literatur, weitet die Perspektive aber auch auf verschiedene Forschungslinien von Komparativität in Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft. Er erkundet damit Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Recht und Literatur und reflektiert auf einer Metaebene grundlegende Formen sowie disziplinäre Spezifika des Vergleichens (comparison of comparisons). Der Projektbereich C (Konstitutivität) untersucht schließlich, inwiefern Literatur nicht mehr nur Attest bestehender Rechtsverhältnisse ist, sondern auch Recht begründet, es aufhebt oder gestaltet. Analog hierzu wird umgekehrt gefragt, inwieweit eine konstitutive Wirkung des Rechts für die Literatur festgestellt werden kann und Recht Literatur gar ermöglicht oder mitgestaltet.

Literaturwissenschaft und Rechtswissenschaft arbeiten als gleichberechtige Partner zusammen. Ziel des interdisziplinären Dialogs ist die Erschließung und Kartierung eines Forschungsgebietes, um systematisch Beziehungsfelder zwischen den beiden Disziplinen zu untersuchen und an einschlägigen Beispielen zu dokumentieren. Die Ergebnisse erheben den Anspruch, zur Klärung wesentlicher Aspekte von Recht und Literatur beizutragen. So befördert der SFB in seiner auf zwölf Jahre angelegten Laufzeit die Weiterentwicklung eines modernen Rechts- und Literaturverständnisses, das sich insbesondere den Herausforderungen grundlegender wie hoch aktueller Fragen zur Bezüglichkeit von Recht und Literatur (1. Förderphase), von Europäisierung, Migration und Globalisierung (2. Förderphase) und von medialen Umbrüchen (3. Förderphase) stellt.

Forschungsstrategisch greift der SFB den Impetus des amerikanischen Law-and-Literature-Movement auf, setzt sich aber bewusst von dessen kontext- und kulturbedingten Prioritäten ab und schärft so das eigene, europäische Profil: Er hat nicht vornehmlich das Ziel, Recht mit Hilfe der Literatur zu (re-)humanisieren oder (partei-)politisch Position zu beziehen, sondern ist durchgängig interdisziplinär angelegt und für beide Disziplinen gleichermaßen produktiv. Die Forschungsgegenstände sind anschlussfähig für eine Reihe weiterer Disziplinen wie Soziologie, Politologie, Anthropologie oder die Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften, für die interdisziplinär verwertbare Forschungsergebnisse markiert und zur Verfügung gestellt werden. Im Ergebnis steht nach fester Überzeugung der Projektbeteiligten ein vertieftes Verständnis von Recht und Literatur, die als so verschiedene und doch aufs engste verbundene Grundpfeiler der westlichen Gesellschaftsordnung verstanden werden.