Dynamiken von Religion und Politik – Leitbegriffe

Dynamiken von Tradition und Innovation

Religionen sind und waren in Geschichte und Gegenwart immer wieder Motor politischen und gesellschaftlichen Wandels. Diese Dynamiken von Religion und Politik erforscht der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in historischer, kulturvergleichender und interdisziplinärer Perspektive. Die Religionsgeschichte ist voll von charismatischen Aufbrüchen, spirituellen Neuanfängen, innovativen Abspaltungen und Reformationen, die selbst dann etwas Neues darstellten, wenn sie sich als Rückkehr zum Ursprung verstanden. Zugleich werden Religionen oft als traditional, als Verteidigung des Alten gegen den dynamischen Wandel der Umwelt dargestellt. Tatsächlich bergen Traditionen aber auch Erneuerungspotential, denn Tradieren bedeutet, vergangene Sinnformen zu vergegenwärtigen, sie in die Gegenwart zu übersetzen. Mit der Dynamik von Religion ist ihr Potential gemeint, gesellschaftliche Prozesse und Konflikte zu beschleunigen und zu verstärken, ab- und umlenken, und umgekehrt abzubremsen und auszugleichen.

Tradition und Innovation sind ineinander verschränkt. Trotzdem muss man sie unterscheiden. Innovation kann beabsichtigt sein, dann setzt sie das Neue gezielt von der Vergangenheit ab. Sie kann aber auch unbeabsichtigt in Gang gesetzt werden, in diesem Fall wird das Neue oft erst im Rückblick als solches erkennbar. Traditionen hingegen werden von Religionsgemeinschaften gepflegt, gegen Neuerungen verteidigt und zur Abgrenzung gegenüber Neuem eingesetzt. Sie sind durch eine gewisse Schwerkraft des Sozialen gekennzeichnet und können doch nur bewahrt werden, indem sie stets neu geschaffen werden.

Die Frage nach der produktiven Kraft der Religion in dem doppelten Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation ist die zentrale Problemstellung, die den Schwerpunkt der Arbeit des Exzellenzclusters bildet. Sie arbeitet Antriebskräfte, Logiken und typische Verlaufsmuster des Wandels im Verhältnis von Religion und Politik heraus und identifiziert charakteristische Dynamiken von Tradition und Innovation.

Religion und Politik

In der Analyse des Verhältnisses von Religion und Politik und seiner sich historisch wandelnden Dynamik geht der Exzellenzcluster davon aus, dass Religion und Politik nicht immer klar voneinander abgegrenzt werden können. Ihre Grenzen sind stets umstritten und werden immer wieder neu ausgehandelt. Für die schriftbasierten komplexen Religionen im Alten Orient, die griechische und römische Antike, das Christentum von seiner Entstehung bis zur Gegenwart, den Islam und das Judentum, also für jene religiösen Traditionen, die am Exzellenzcluster im Mittelpunkt des Interesses stehen, ist die Unterscheidung von Religion und Politik jedoch sehr wohl geeignet, zentrale Pole der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu bezeichnen.

In allen diesen Traditionen bildeten sich religiöse und politische Rollen und Institutionen heraus, die voneinander nicht nur unterschieden waren, sondern einander oft sogar konkurrierend gegenüberstanden. Was dabei in der Geschichte jeweils unter Religion und was unter Politik verstanden wurde, variierte in starkem Maße und wies manche Überschneidungen auf. Religion und Politik dürfen daher nicht substantialisiert werden. Auch wenn sie als analytische Kategorien brauchbar sind, lassen sich doch auch immer wieder nicht nur Grenzverschiebungen, sondern auch Grenzüberschreitungen und Entgrenzungen beobachten.

Gesellschaftlicher Kontext und religiöser Eigensinn

Um Religion und Politik als klar voneinander abgrenzbare Einheiten und Analysekategorien zu behandeln, ist es erforderlich, sie im gesellschaftlichen Kontext von Auseinandersetzungen, Interessengegensätze, Aushandlungs- und Abgrenzungsprozesse zu untersuchen. Auch dort, wo sich religiöse Identitäten, Diskurse und Praktiken als Widerspruch zur Umwelt präsentieren und ihre Unüberbietbarkeit reklamieren, partizipieren sie noch an dem, wovon sie sich emanzipieren wollen.

Andererseits geht Religion in ihrer gesellschaftlichen Einbindung nicht einfach auf. Sie besitzt einen aus ihrer Tradition und Geschichte, aus ihren Semantiken, Ritualen und Gemeinschaftsformen resultierenden Eigensinn, der sie zu einem selbstständigen Faktor des gesellschaftlichen Wandels und politischer Auseinandersetzungen macht. Wer das Zusammenspiel religiöser Identitäten, Heilserwartungen und Ordnungsvorstellungen, Diskurse und Praktiken mit nichtreligiösen Interessen verstehen will, muss Religion auch als eine eigendynamische Ressource ernst nehmen, die autonomen Regeln, Logiken und Sinnzuschreibungen folgt und gerade auf diese Weise auch gesellschaftliche Veränderungen initiieren, modifizieren oder auch aufhalten kann.

In der Arbeit des Exzellenzclusters hat es sich bewährt, mit einem weiten Begriff von Religion zu arbeiten. So können auch funktionale Äquivalente von Religion, metaphorische Verwendungsweisen des Begriffs sowie Formen säkularer Sakralisierung – etwa die Sakralisierung der Nation – betrachtet werden. Auch bei der Definition von „Politik“ empfiehlt sich ein offener Ansatz:

Religionen sind sozial verankerte Symbolsysteme und Praktiken, die zwischen Diesseits und Jenseits vermitteln und zugleich den Bereich der verfügbaren Lebenswelt intentional überschreiten. In ihrem Transzendierungspotential liegt die besondere Fähigkeit von Religionen begründet, sich zur zugänglichen Lebenswelt in ein reflexives Verhältnis zu setzen, ihre Normen mit neuen Wertungen zu versehen, sie zu modifizieren, ja umzukehren und die bestehenden Verhältnisse so zu dynamisieren.

Als Politik sind nicht nur alle jene Aspekte des menschlichen Handelns zu verstehen, die auf die Herstellung kollektiv verbindlicher und das Gemeinwesen betreffender Entscheidungen bezogen sind. Verbindliche Entscheidungen stehen unter Rechtfertigungszwang und Anerkennungsvorbehalt. Zum Bereich der Politik gehören daher auch jene sozialen Praktiken, die als Forderungen auf verbindliche Entscheidungen einwirken, sie vorbereiten und sie letztlich legitimieren sollen, sowie alle Prozesse, die die Durchsetzung und Anerkennung verbindlicher Entscheidungen betreffen, also auch das Verhältnis zwischen politischen Prozessen und Strukturen und politischer Kultur.