Sozialer Raum als bedrohte Sphäre

Von Ethnologin Prof. Dr. Dorothea Schulz

© Souleymane Diallo

Ähnlich der Bandbreite von Restriktionsmaßnahmen, die verschiedene europäische Regierungen in den vergangenen Monaten zur Prävention oder Eindämmung der Verbreitung von COVID 19 getroffen haben, gab es auch auf dem afrikanischen Kontinent erhebliche Unterschiede in Bezug auf die Art von Maßnahmen, auf die Zielgerichtetheit, mit der Regierungen damit in bestimmte Bereiche des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens eingriffen, und auch in Hinblick darauf, wie strikt die Einhaltung der Maßnahmen sanktioniert wurde.

Jenseits dieser Bandbreite staatlicher Interventionen in verschiedenen Ländern Afrikas besteht eine offenkundige Gemeinsamkeit darin, dass Bürger und Bürgerinnen zahlreicher afrikanischer Länder die Einschränkung räumlicher Beweglichkeit nicht nur als radikale Gefährdung ihrer Chancen, das tägliche Überleben zu sichern, thematisieren, sondern auch als schier unerträglichen Eingriff in das soziale Miteinander. Auch hier sind also Parallelen zu Reaktionen in Europa zu sehen.

Zusätzlich jedoch scheint bei vielen Gesprächspartnern in Kenia, Uganda und Mali auch die Sorge darüber auf, dass die staatlichen Restriktionen ihr Selbstverständnis als ein soziales Wesen bedrohen. Für dieses Verständnis von Menschsein - und von Menschlichkeit - kennzeichnend ist das Sprichwort „Die Welt ist Konversation“ (dinye ye baro ye) in Bamanakan, der Verkehrssprache des südlichen Mali. Dieses Sprichwort setzt menschliches Dasein mit Soziabilität gleich, wobei Soziabilität definiert wird als die Bereitschaft und Fähigkeit zum Dialog mit Anderen. Dementsprechend beinhaltet für viele Malier und Malierinnen die aktuelle, staatliche Reglementierung von räumlicher Nähe und auch die Vorgabe, eine Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum zu tragen, die Schaffung einer sozialen Distanz, die der Wesenheit des Menschen widerspricht, da sie unmittelbare, verbale Kommunikation unmöglich macht.

Einen anschaulichen Beleg für diese Betonung auf Raum als einer Bühne für menschliche Interaktion liefert der Spottname corona dagara, der in Mali schon bald nach Einführung von Gesichtsmasken für diejenigen geprägt wurde, die eine maski (abgeleitet vom französischen masque) tragen. Wörtlich übersetzt bedeutet corona dagara „Corona-Stummer“. Dass Träger einer Nasen-Mund-Bedeckung mit Taubstummen gleichgesetzt werden, bedeutet, dass eine physiologisch verankerte Versehrtheit als soziale Behinderung umgedeutet wird und- wenn auch nur scherzhaft - denjenigen, die sich zu Opfern dieser Einschränkung machen, abgesprochen wird, soziale Wesen im vollen Sinne zu sein.

Auch wenn der Spitzname im leichten Spott verwandt und nicht als Beschimpfung verstanden wird, so verweist er darauf, dass Covid 19 – bezogene Restriktionen Veränderungen in der Wahrnehmung des sozialen Raums, von sozialer Nähe und Distanz, bedingen: Selbst bei gleichem räumlichen Abstand wird neue soziale Distanz geschaffen durch das Unterbinden von verbaler Kommunikation, die als konstitutiv für menschliche Existenz angesehen wird. Diese Sicht mag ein Grund dafür sein, dass die offizielle Verordnung, eine Nasen-Mund-Bedeckung zu tragen, in Mali auf größten Widerstand stieß, ihre aktuelle Umsetzung auf Gebäude staatlicher Administration und den Dienstleistungsbereich beschränkt ist und im übrigen der individuellen Initiative überlassen bleibt.