Willkürherrschaft und Strafe Gottes: Wie eine Epidemie schon einmal zu Verschwörungstheorien und religiösen Bestrafungsphantasien führte

Von Historiker PD Dr. André Krischer

DOI:10.13140/RG.2.2.10372.76163

Es war kaum zu fassen: Die Pandemie rückte bedrohlich näher, und die Opferzahlen aus Frankreich klangen erschreckend. Die Regierung hatte deswegen, beraten von ihren Experten, umfangreiche Quarantäne-Maßnahmen beschlossen. Man war sogar bereit, massive wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen und den Handel fast zum Erliegen zu bringen, wenn sich auf diese Weise Infektionen verhindern ließen. Und trotz all dieser für die Regierung und ihre Experten so rational erscheinenden Maßnahmen gab es Leute, die darüber unglaubliche Geschichten erzählten: Infizierte sollten entweder in ihren Häusern festgesetzt oder aber zwangsweise in Quarantänezentren überstellt werden. Familiäre Bindungen sollten keine Rolle spielen, wenn es darum gehe, Gesunde und Kranke voneinander zu trennen. Notfalls sollte das Militär im Inneren eingesetzt werden und jede Bewegungsfreiheit unterbinden. Es sei daher doch klar, worum es hier gehe: Die Errichtung einer Willkürherrschaft.

Waren das Stimmen von den "Corona-Demos", bei denen sich im Mai 2020 in verschiedenen deutschen Städten z.T. tausende Teilnehmer um notorische Verschwörungstheoretiker scharten und gegen eine 'Neue Weltordnung" unter der Führung von Bill Gates protestierten? Obwohl die Ähnlichkeiten verblüffend sind, hat sich das geschilderte Szenario tatsächlich vor fast genau 300 Jahren zugetragen, nämlich 1720/21, als die Menschen in England und besonders in London mit großer Sorge nach Südfrankreich blickten, wo in der Stadt Marseille die Pest ausgebrochen war.

Druckgraphik von der Pest in Marseille, die die Bedrohung durch die Seuche auch international bekannt machte, Stich von Jacques Rigaud nach einer Vorlage von Michel Serre, 1720
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In London hatte die letzte große Pest von 1665 rund 70.000 Opfer gefordert. Die Erinnerung an diese Katastrophe war noch nicht verblasst und wurde den Zeitgenossen durch Daniel Defoes zwar fiktives, aber extrem authentisch wirkendes Journal of the Plague Year vor Augen geführt. Es war aber der Bischof von London, Edmund Gibson (1669-1748), dessen Fassungslosigkeit ob der öffentlichen Diskussion über die Maßnahmen zur Seuchenprävention eingangs paraphrasiert wurde. Gibson hatte sich in einer 1721 erschienen Flugschrift über Lügen und Falschnachrichten beklagt (Lies and Misrepresentations of Facts, (Gibson 1721, 7), über das Geraune darüber, dass die Obrigkeit die Maßnahmen nur nutze, um die Freiheit abzuschaffen und ein despotisches Regime nach französischem Vorbild zu errichten. Manche würden sogar behaupten, dass die Seuche den Briten überhaupt nichts anhaben könne. Mit solchen und anderen Falschnachrichten, so Gibson, brächten Leute das Leben ihrer Mitmenschen in Gefahr: the preserving of the Lives of their Fellow-Subjects, are not the Things which these Men aim at (Gibson 1721, 9).

[Edmund Gibson], The causes of the discontents in relation to the plague, and the provisions against it, fairly stated and consider'd, London 1721. Die Flugschrift des Londoner Bischofs zeigt ganz eindeutig, dass die drohende Pest und die von der Regierung ergriffenen Präventionsmaßnahmen Verschwörungserzählungen Auftrieb gab: Die Pest sei überhaupt keine Gefahr, die Maßnahmen vollkommen übertrieben und alles nur Schritte auf dem Weg zu einer Willkürherrschaft nach französischem Vorbild.
© Wellcome Library, gemeinfrei

Bischof Gibson gehörte zu jenen Kirchenleuten, die die energischen Maßnahmen der Whig-Regierung unter Premierminister Robert Walpole, von der Kanzel und in der Publizistik unterstützen (Slack 1985, 304). Aber es gab von kirchlicher Seite auch ganz andere Stimmen: Die Pest sei eine Strafe Gottes, besonders für London, diesen Sündenpfuhl der Ungläubigen, hieß es von den Kanzeln anderer Kirchen der britischen Metropole. Und gegen die Seuche helfen ohnehin nur Fasten, Beten, Buße und die gefasste Vorbereitung auf den Tod (Lund 2003). Quarantäne- und andere Präventionsmaßnahmen wurden zwar nicht denunziert, aber eben auch nicht als das rationale Mittel der Wahl empfohlen.

Machen wir hier zunächst einen Punkt, die Parallelen zwischen 1720/21 und 2020 sind offensichtlich: Regierungen ergreifen im Angesicht eine drohenden Epidemie Abwehrmaßnahmen, sie werden dabei von den führenden Gelehrten unterstützt, doch bald darauf kommt es zu lautstarken Protesten von Gruppierungen, die hinter diesen Maßnahmen geheime Absichten vermuten, die auf eine Diktatur bzw., in den Begriffen von 1720, auf Arbitrary Government (Gibson 1721, 7) hinausliefen. Und als wäre das konspirative Geraune noch nicht genug, betraten Kirchenmänner die öffentliche Bühne, um die Regierungsmaßnahmen mit Verweis auf die Epidemie als einer göttlichen Strafe zu relativieren - so wie etwa der Kurienkardinal Müller Anfang Mai 2020. Freilich besaß das Wort der Theologen 1720 ein anderes Gewicht als heute.

Gibt es also einen sich historisch wiederholenden Zusammenhang zwischen Seuchenpräventionen und Verschwörungstheorien, zwischen Expertenrat und alternativen Deutungen? Zunächst einmal waren Diskurslagen und Gesellschaftsstruktur 1720/21 ganz andere als heute, schon deshalb kann man nicht einfach von einer Wiederholung sprechen. Aber es gibt ähnliche Muster, etwa den Verdacht, dass hinter dem Rat eines Experten etwas ganz anderes steckt als nur die gute Absicht, möglichst viele Menschenleben zu retten.

Die Regierung Walpole folgte bei ihren Maßnahmen - genauer: bei der Vorbereitung eines neuen Quarantäne-Gesetzes - dem Rat des Arztes Richard Mead (1673-1754). Dieser zählte nicht nur Isaac Newton zu seinen Patienten, sondern auch Mitglieder der königlichen Familie sowie den Premierminister. Außerdem war Mead gerade erst zum Vizepräsident der Royal Society berufen geworden. Sein Short Discourse Concerning Pestilential Contagion, and the Methods to be Used to Prevent war die erste epidemiologische Abhandlung, die in Politik übersetzt wurde (Zuckerman 2004, 274). Seine Empfehlungen liefen darauf hinaus, zunächst jedes ankommende Schiff unter Quarantäne zu stellen. Darüber hinaus sollten innerhalb des Landes von der Pest betroffene Städte und Gebiete abgeriegelt werden. Wer raus wollte, musste entweder eine zwanzigtägige Quarantäne einhalten (in Tents, or other more convenient Habitations) oder eine Gesundheitsbescheinigung vorlegen. Diese Maßnahmen sollten notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden. Am 10. Februar 1721 wurden diese Vorschläge in ein Gesetz umgemünzt, ergänzt um drakonische Strafen: Die Missachtung der Quarantänevorschriften konnte mit dem Tod bestraft werden.

Eine Abhandlung über die Pest, die in Politik umgesetzt wurde. Meads "Short Discourse" von 1720 erklärte die Seuche nicht nur als ansteckende Krankheit, sondern empfahl auch entsprechende Präventionsmaßnahmen, die von der britischen Regierung in ein Gesetz überführt wurden - zum ersten Mal in der Seuchengeschichte überhaupt. Die Schrift wurde bis 1743 neun Mal wieder aufgelegt und noch im 19. Jahrhundert zitiert.
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Kaum beschlossen, entfachte das Gesetz allerdings öffentliche Diskussionen. Den Kopf dafür frei hatten die Leute deswegen, weil die Pest England noch nicht erreicht hatte - und diesmal auch nicht erreichen sollte. Bei dieser Diskussion lassen sich nun durchaus rationale Positionen identifizieren, die die Angemessenheit der radikalen Maßnahmen in Zweifel zogen. Diese Zweifel kamen auch deswegen auf, weil sich die geplanten Maßnahmen nicht auf sicheres und unzweifelhaftes medizinisches Wissen stützten, sondern auf eine am Beginn des 18. Jahrhunderts umstrittene Hypothese, die eher von einer Minderheit der Gelehrten vertreten wurde: nämlich die Theorie, dass die Pest durch Ansteckung (contagion) von Mensch zu Mensch übertragen wurde. Andere Mediziner etwa vertraten unter Berufung auf die Koryphäe Thomas Sydenham (1624-1689) die Theorie, dass atmosphärische Zustände ‚verpestete‘ Ausdünstungen freisetzten, wogegen weder Barrieren noch Quarantäne halfen (Zuckerman 2004, 279). Über die Ursachen der Pest und die effektive Mittel dagegen entstand 1720/21 eine lebhafte Debatte, bei der sich nicht wenige Mediziner auf den von der Politik so hochgeschätzten Dr. Mead und seine Vorschläge einschossen.

Mit Blick auf derartige Gegenpositionen fragten oppositionelle Tory-Politiker, ob man wirklich den Handel abwürgen, die wirtschaftliche Erholung gefährden oder gar eine Hungersnot riskieren wolle: Die Briten litten nämlich gerade zu dieser Zeit unter den Folgen der größten geplatzten Spekulationsblase der Frühmoderne, der South Sea Bubble von 1720, die zahllose Kleinanleger ruiniert hatte (Menning 2020). Zugleich verwiesen sie darauf, dass solche Notstandsmaßnahmen und Freiheitseinschränkungen utterly unknown to our Constitution seien, sie äußerten also verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Maßnahmen, die sie nicht zuletzt deswegen für problematisch hielten, weil sie vom ungeliebten Kontinent und hier aus Frankreich kamen, von dessen Willkürregiment England unbedingt verschont werden müsse (The Evening Post, Nr. 1968, 08.-10.03.1721).

Neben solchen, durchaus begründeten Einwänden gegen eine bislang nur abstrakte Gefahr gab es in der weiteren Öffentlichkeit aber auch schrillere Stimmen, die das Gesetz entweder nicht genau gelesen hatten oder lesen wollten und behaupteten, dass die Leute innerhalb der Sperrgürtel festgesetzt werden sollten und erschossen würden, sollten sie versuchen, diese zu verlassen. Behauptet wurde zudem, dass diese Maßnahmen nicht nur im Fall eines Ausbruchs der Pest gelten sollten, sondern sofort mit Inkrafttreten des Gesetzes. Gibson nannte diese Unterstellung the greatest and most general Misrepresentation of Facts, by which thesen Men have labour'd to inflame the Nation (Gibson 1721, 8). Gibson hielt die Verschwörungserzählungen also nicht nur für irreführend, sondern für gemeingefährlich und hetzerisch.

Ganz ohne Realitätsbezug waren solche Befürchtungen aber nicht: Daniel Defoe hatte in einem Zeitschriftenartikel drastisch beschrieben, wie französische Soldaten fast 200 Menschen erschossen hatten, die aus dem pestverseuchten Toulon zu fliehen versucht hatten (Novak 1977, 245f.). Allerdings hatte schon Mead davor gewarnt, das Verlassen eines infizierten Gebiets wie in Frankreich vollkommen zu unterbinden, das sei an unnecessary Severity, not to call it a Cruelty (Mead 1720, 62). Aus Gibsons Flugschrift lässt sich schließen, dass die Spekulationen (er spricht von malicious Suggestions, Gibson 1721, 6) über mögliche Zwangsmaßnahem dennoch ins Kraut schossen. So gab es beispielsweise Gerüchte darüber, dass Soldaten vor jedem Haus mit Infizierten wachen sollten oder ganze Familien aus ihren Häusern geholt und zur Quarantäne gezwungen werden sollten. Behauptet wurde ferner, dass das Verlassen infizierter Gebiete unter keinen Umständen möglich sei, also nicht einmal für Personen mit einen Seuchenpass. Die Regierung wolle sogar in Kauf nehmen, dass die Leute innerhalb eines Sperrgürtels verhungerten als durch Lebensmitteltransporten weitere Ansteckungen zu riskieren. Es handele hier doch um nichts anderes als ein um French Scheme und damit um Maßnahmen aus einem Land mit Arbitrary Government (Gibson 1721, 6-8).

Sehr zum Bedauern Meads wurde das Gesetz nicht zuletzt wegen solcher Gerüchte bereits wenige Monate später schon wieder entschärft. Vorgeschrieben wurde nun lediglich die Quarantäne für Schiffsbesatzungen und Waren in Lazaretten. Dabei waren in England schon bei früheren Pestepidemien - zuletzt noch bei der Großen Pest von 1665 - Quarantänen und auch die diesmal so sehr skandalisierte Separierung von Kranken und Gesunden durchgeführt wurden (Slack 1989). Aber erst, indem solche bisher als Praxis gehandhabten Maßnahmen normative Verbindlichkeit erhielten und damit die Expertise eines bestimmten Mediziners für politisch allein relevant erklärt wurde, avancierte sie zum Gegenstand von Protest. Ohne Frage spielte dabei auch Meads Person eine Rolle, der rasch ins Kreuzfeuer von missgünstigen Kollegen, öffentlichen Spekulationen und Vertretern der Church of England geriet (Zuckerman 2004, 294, DeLacy 2016, 153-160).

Eine Art Staatsepidemiologe: Richard Mead, um 1740, NPG London, D5241.
© gemeinfrei nach http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/

Dass die Diskussion über eine effektive Seuchenprävention in England in derart schrille Bahnen abgleiten konnten, war kein Zufall. Ursächlich dafür waren nicht nur eine schon sehr selbstbewusste Öffentlichkeit mit ihren Kaffeehäusern und einer einzigartigen Presse- und Medienlandschaft, die von keiner Zensur mehr reglementiert wurden. Vielmehr war gerade die englische Gesellschaft schon seit dem 16. Jahrhundert daran gewöhnt, in verschwörungstheoretischen Kategorien zu denken: Entweder fürchtete man sich vor der Unterwanderung durch ‚Papisten‘ oder man unterstellte den jeweils Herrschenden, ein Arbitrary Government errichten zu wollen (Krischer 2019, Niggemann 2017, 170). 1678 hatten noch die Gründerfiguren der Whigs solche Gerüchte in die Welt gesetzt und damit die Herrschaft der Stuart-Dynastie unterminiert. 1720/21 waren die regierenden Whigs selbst das Ziel solcher Gerüchte. Diese wurden auch von jenen gestreut, die eine Rückkehr der Stuarts oder jedenfalls einer ‚guten alten Zeit' für wünschenswert hielten und die nach der South Sea Bubble eine Gelegenheit witterten, um die Walpole-Administration zu diskreditieren.

Die Politisierung der Diskussion hatte Bischof Gibson im Auge, wenn er fragt: Can a Scheme be either better or worse in it self, because it comes from Whig or Tory Hands (Gibson 1721, 12). Sein Verweis auf Lies and Misrepresentations of Facts kommentierte den laufenden Diskurs ebenso treffend wie seine Zurückweisung überschießender Interpretationen, die in allen Maßnahmen, die nur für den Fall der Pest geplant waren, Bausteine für ein Willkürregiment sehen wollten. Allerdings differenzierte Gibson selbst nicht zwischen rationaler und irrationaler Kritik. Er unterstellte vielmehr, dass die Kritiker unterschiedslos in Thoughts and Imaginations gefangen seien (Gibson 1721, 10). Insofern fungierte Gibsons Pamphlet nicht nur als distanzierter Beobachter eines Diskurses, der verschwörungstheoretisch grundiert war. Vielmehr war das Pamphlet ein Teil dieses Diskurses und in seiner Pauschalisierung eine Provokation.

Die religiöse Deutung der Seuche war wiederum insofern politisiert, als jene Theologen von der Seuche als Gottesstrafe sprachen, die sich als Vertreter der Church of England positionierten und die am Beginn des 18. Jahrhunderts den Tories nahestanden. Darunter gab es auch Pfarrer, die die Ansteckungstheorie durchaus teilten, aber trotzdem ihre Kanzeln nicht zur Werbung für die Seuchenpolitik der Regierung nutzten. Zu groß war offenbar die Versuchung, die drohende Pest als gerechte Strafe für eine Metropole zu deuten, die in den Augen der Theologen immer mehr in Sünde und Atheismus abglitt (Lund 2003). Als Atheisten galten dabei all diejenigen, die sich nicht demonstrativ zur Church of England bekannten, darunter die immer bedeutsamer werden Dissenters, ein heterogenes Spektrum protestantischer Freikirchen mit engen Verbindungen zu den Whigs. Als Quäker war Richard Mead ebenfalls ein Dissenter. Schon das war für die meisten Anglikaner Grund genug, ihn und seine Vorschläge nicht zu unterstützen. Am Beispiel von Bischof Gibson zeigt sich freilich, dass nicht alle Exponenten der Staatskirche der Gottesstrafen-Doktrin folgten. Viele seiner Kollegen aber hielten ihre ‚Strafpredigten‘ offenbar für eine gute Investition im Markt der öffentlichen Aufmerksamkeit, wo ihre Botschaften mit denen der Dissenters konkurrierten. Ob eine solche Konkurrenz-Logik auch hinter den Einlassungen der Kardinäle um Müller stand oder ob sie wirklich eine ‚Neue Weltordnung‘ befürchteten, ist aus der Ferne nicht zu entscheiden.

Man sieht: Trotz gewisser Ähnlichkeiten unterscheiden sich die Konstellationen von 1720 und 2020 zunächst einmal erheblich - so wie immer in der Geschichte. Und dennoch lassen sich Vergleiche ziehen, zumindest zwischen der historischen englischen und der deutschen Gegenwartsgesellschaft, deren stellenweise paranoide Reaktionen auf die staatlichen Maßnahmen ja im internationalen Vergleich besonders waren: In beiden Fällen wurden staatliche Präventionsmaßnahmen als übertriebene Freiheitseinschränkungen debattiert, und zwar auch deswegen, weil zur gleichen Zeit darüber verhandelt wurde, was eigentlich unter ‚Freiheit‘ zu verstehen war und inwiefern sie nicht schon längst von allen Seiten bedroht war. Intensiviert wurden diese Debatten durch den Rekurs auf verschwörungstheoretische Versatzstücke, die in England 1720 bereits lange, in Deutschland spätestens seit der ‚Flüchtlingskrise‘ diskursive Praxis waren und sind (Butter 2018, 21-29).

Man kann am Vergleich von 1720-2020 also sehen, was passiert, wenn eine Pandemie auf eine Gesellschaft trifft, in der sich Verschwörungstheoretiker Gehör verschaffen können: In beiden Fällen ließ sich die Pandemie dann in schon existente Erzählungen über dunkle Machenschaften der Regierenden einfügen.

Für zusätzliche Resonanz und Brisanz sorgen diese Erzählungen dann, wenn diese Gesellschaften zugleich meinen, in einer Krise zu sein. Das glaubte man am Beginn des 18. Jahrhunderts ebenso (Krischer 2016) wie ‚Krise' auch aktuell ein vielfach gebrauchtes Schlagwort ist (‚Flüchtlingskrise‘, ‚Corona-Krise‘ usf.). Eine medial präsente Minderheit kann solche Krisendiskurse nutzen, um die politische Ordnung als gefährdet darzustellen und die Quarantäne als ersten Schritt zur Diktatur oder zum Arbitrary Government.

Politische Entscheidungen schließlich, die sich auf offenkundig unsicheres medizinisches Wissen gründen, deren unbedingte Notwendigkeit sich also nicht aus einer wissenschaftlichen Formel ableiten lässt, verstärken in bestimmten Kreisen den Eindruck staatlicher Willkür. 1720 wurde über über den Sinn von Quarantäne gestritten, weil weil es Mediziner gab, die die Pest nicht für ansteckend hielten. 2020 wurden Schulen und Kitas geschlossen während zugleich darüber gestritten wurde, inwiefern Kinder überhaupt relevante Überträger waren. Wenn die unsichere, aber politische relevante Expertise zudem mit einer Person identifiziert werden kann, mit dem Virologen Christian Drosten 2020 oder dem Epidemiologen Richard Mead 1720/21, dann ließ sich daraus noch besser ein Skandal machen, zumal dann, wenn diese Person selbst engen Umgang mit dem, was ‚kritische Kreise‘ für ‚das Establishment‘ hielten, pflegte. Dabei waren und sind politische Entscheidungen per Definition immer unsicher, könnten also stets anders ausfallen (Hoffmann-Rehnitz, Krischer and Pohlig 2018). Diese „Kontingenz“ der Entscheidung, wie Philosophen dazu sagen würden, wurde hier nur besonders offensichtlich und zugleich unerträglich (zu "Kontingenz" vgl. auch den Beitrag der Politikwissenschaftlerin Carolin Hillenbrand). Kurzum: 1720 und 2020 lassen sich insofern vergleichen, als bestimmte Teile der jeweiligen Gesellschaften die drohende Pandemie in ihre Krisen- und Verschwörungserzählungen einbanden und damit in Medien und Öffentlichkeit vorübergehend Resonanzen erzeugten. Dass diese Krisen aber tatsächlich nur Deutungsmuster und keine objektiven Zustände darstellten, zeigte und zeigt sich daran, dass der Resonanzraum doch rasch wieder kleiner wurde und auf die notorischen Echokammern zusammenschrumpfte.

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