Patient und Doktor zugleich

Wie es um das komplexe Ökosystem Wald bestellt ist - eine Bestandsaufnahme

Münster (upm), 28. Juni 2013

Kahlschlag: Der Orkan „Kyrill“ traf den Briloner Wald (Hochsauerland) im Mai 2007 besonders heftig.
Kahlschlag: Der Orkan „Kyrill“ traf den Briloner Wald (Hochsauerland) im Mai 2007 besonders heftig.
Foto: WWU - Claudia Molitor

Ein düsteres Bild zeichnete "DER SPIEGEL" im November 1981: "Über allen Wipfeln liegt der giftige Hauch von Industrieabgasen - das macht den deutschen Wald krank bis in die Wurzeln." Die Waldschäden, die im Zuge der Industrialisierung in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert worden waren, rückten damals in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit.

"In deutschen Mittelgebirgen gab es großflächig kahle Waldflächen. Damals entstand ein gigantischer Druck der Bürger auf die politischen Entscheidungsträger, etwas gegen die Luftverschmutzung zu unternehmen", erklärt Prof. Andreas Schulte vom Wald-Zentrum an der WWU. Durch Maßnahmen wie die Einführung der obligatorischen Rauchgas-Entschwefelung in Kraftwerken und des bleifreien Benzins wurde der Schwefel- und Schwermetalleintrag über die Luft deutlich gesenkt.

Ein Wald ist ein komplexes Ökosystem mit einer Vielzahl an Pflanzen, Tieren und Pilzen. Er liefert Holz, ist Trinkwasserfilter und dient dem Klimaschutz, da er das Treibhausgas Kohlenstoffdioxid (CO2) aus der Atmosphäre aufnehmen kann. Nicht zuletzt hat er eine Erholungsfunktion für die Menschen. "So gesehen, übernimmt der Wald die Rolle eines Doktors. Gleichzeitig ist er aber auch immer noch Patient", erklärt Andreas Schulte. "Zwar sind die deutschen Wälder in einem akzeptablen Zustand. Aber es gibt nach wie vor Probleme. Dazu gehört der Stickstoff-Eintrag aus der Luft, der gerade die aus Sicht des Naturschutzes besonders relevanten nährstoffarmen Waldstandorte schädigt." Laut NRW-Waldzustandsbericht 2012 sind auf rund 66 Prozent der Waldfläche Schäden in den Baumkronen zu finden.

Das größte Problem sieht Andreas Schulte in der Entwicklung des Klimas. Neben einem Anstieg der Temperaturen im Jahresmittel und verstärkten Trockenphasen im Frühjahr und Sommer muss man zunehmend mit Orkanen rechnen. Das Orkantief "Lothar" hat schon 1999 mit der bislang größten Zerstörung von Waldbeständen in West- und Mitteleuropa gezeigt, was für verheerende Folgen Windgeschwindigkeiten von weit über 200 km/h haben. In NRW hat "Kyrill" im Januar 2007 Baumbestände auf 50.000 Hektar gefällt, das ist so viel Holz, wie sonst in drei Jahren dort vermarktet wird. Der wirtschaftliche Schaden allein im nordrhein-westfälischen Wald belief sich auf mehr als 1,5 Milliarden Euro.

Besonders anfällig für Sturmschäden sind Fichtenmonokulturen, die allerdings inzwischen zunehmend seltener gepflanzt werden. "Der Trend hin zu Mischwäldern ist aus ökologischer und aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll. Doch wir müssen akzeptieren, dass wir mit waldbaulichen Maßnahmen keine Antwort auf Orkane wie Lothar oder Kyrill finden werden", stellt Andreas Schulte klar. "Windstärken von weit mehr als 200 Stundenkilometern hält selbst der naturnaheste Mischwald nicht stand."

Der Klimawandel ist eine Gefahr für die Wälder. Gleichzeitig können die Wälder zum Klimaschutz beitragen. So sieht Andreas Schulte im Holz den Rohstoff der Zukunft schlechthin. "Holz ist die Antwort auf drängende Probleme", unterstreicht er. "Es ist ein nachwachsender Rohstoff, läuft nicht aus, strahlt nicht, verschmutzt keine Meere oder Trinkwasser, ist zu 100 Prozent recycelbar, speichert langfristig CO2 und ist beliebt."

Ein sehr großes Potenzial liegt in der Nutzung von Holz als nachwachsendem Rohstoff für die Erzeugung von Bioenergie. Die Nachfrage kann allerdings nicht allein über die zusätzliche Entnahme von Holz aus dem Wald gedeckt werden. Zunehmend in der Diskussion ist daher die Energieholzgewinnung in Kurzumtriebsplantagen auf Agrarflächen. In diesen Plantagen werden schnell wachsende Bäume eingesetzt, um Holz zu ernten. Dabei werden die Bäume, in der Regel Pappeln oder Weiden, im Abstand von wenigen Jahren "auf den Stock gesetzt" – also bis auf einen Stumpf zurückgeschnitten, aus dem neue Triebe wachsen. Damit der Agrarholzanbau aus ökologischer Sicht einen Gewinn darstellt, dürfen keine Waldflächen oder sonstige naturschutzfachlich wertvolle Biotope in Plantagen umgewandelt werden.

Betrachtet man den Agrarholzanbau jedoch als Alternative zu Energiepflanzen wie Mais oder Raps, wendet sich das Blatt. "Es handelt sich rechtlich, wirtschaftlich und ökologisch um ein landwirtschaftliches Produktionssystem. Aus Sicht des Umwelt- und Naturschutzes sind Kurzumtriebsplantagen auf Agrarflächen um ein Vielfaches sinnvoller als zum Beispiel Mais- oder Rapsmonokulturen zur Erzeugung von Biomasse", erklärt Andreas Schulte. Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland weist auf die ökologischen Vorteile hin. Dazu zählen seltenere Störungen der Wildtiere, ein geringerer Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden sowie höhere Artenzahlen im Vergleich zu intensiv bewirtschafteten Äckern. Bislang schlagen Kurzumtriebsplantagen mit etwa 4500 Hektar in Deutschland allerdings kaum zu Buche. Zum Vergleich: Die Gesamtanbaufläche für Energiepflanzen beziffert die Fachagentur nachwachsende Rohstoffe e. V. für 2012 auf mehr als zwei Millionen Hektar.

Ob als Biomasse zur Energieerzeugung oder als innovativer Zukunftsrohstoff für die chemische Industrie oder Holzwerkstoff-Hersteller – die Nachfrage nach Holz steigt. Andreas Schulte sieht im heimischen Wald ein Pfund, mit dem es zu wuchern gilt. "Hierzulande schreibt das Bundeswaldgesetz eine nachhaltige Waldbewirtschaftung vor, die auch rechtlich durchgesetzt wird. Das sieht in vielen Erd-Regionen anders aus. Dazu kommen dort massive illegale Einschläge. Wir sollten uns in Deutschland daran beteiligen, ein dem Bedarf entsprechendes Angebot an Holz zu produzieren. Ich habe kein Verständnis dafür, dass nicht nachhaltig erzeugtes Holz aus den Tropen oder aus Sibirien importiert wird."

Dieser Artikel von Christina Heimken ist in der Juni-Ausgabe der Uni-Zeitung wissen|leben erschienen.

Uni-Zeitung wissen|leben