Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 48 (2007): Solidarität

Vorwort

Vorwort Solidarität gehört heute zu jenen Begriffen, die durch ihren inflationären Gebrauch ihre Konturen und ihren Sinn zu verlieren drohen. Dies gilt für die politisch-soziale Sprache, wie ein Blick in der Verwendung des Solidaritätsbegriffs in allen Parteiprogrammen – von ganz links bis ganz rechts – leicht zeigen kann. Dies gilt aber auch für die Beschwörung der Solidarität als gesellschaftlichen Wert, von dem man glaubt, so viel reden zu müssen, weil es ihn angeblich immer weniger gibt. Aus der Sprache politisch-sozialer Milieus entbunden, zu deren Identität und Abgrenzung seine Verständnisvarianten einst beitrugen, flottiert der Solidaritätsbegriff heute zum beliebigen Gebrauch freigegeben im sozialen Feld. Rückwirkungen auf den wissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs, sowohl in seinem ethisch-normativen wie in seinem soziologisch-analytischen Verständnis, sind unvermeidbar. Neben anderen Traditionen ist es in besonderer Weise das katholisch-soziale Denken, das sich durch die Entkonturierung des Solidaritätsbegriffs herausgefordert sehen muss. Als ,geglückte Übersetzung‘ christlicher Anliegen in eine säkulare, manchmal sogar explizit antichristliche Sprachtradition hat der Solidaritätsbegriff innerhalb des katholisch-sozialen Denkens eine erstaunliche Karriere hinter sich gebracht. In seiner von den Jesuiten Pesch, Gundlach und Nell-Breuning grundgelegten Variante diente er sowohl der identitätssichernden Abgrenzung nach innen wie der Verständigung nach außen. Als Identitätsformel politisch-sozialer Milieus ist der Solidaritätsbegriff heute aber längst funktionslos geworden. Auf diesem Hintergrund stellen sich gegenwärtig fundamentale Fragen. Welche Rolle kommt dem Solidaritätsbegriff innerhalb der sich neu formierenden ethischen Debatte zu? Lässt sich ein wissenschaftlich brauchbarer, gegenüber der öffentlichen Sprachverwirrung hinreichend resistenter Solidaritätsbegriff überhaupt entwickeln? Oder sollte man auf ihn – zugunsten des Gerechtigkeitsbegriffs etwa – gänzlich verzichten? Wenn nein, was nötigt dazu, am Solidaritätsbegriff neben dem Gerechtigkeitsbegriff festzuhalten? Was die christliche Sozialethik angeht, so scheint der Solidaritätsbegriff hier einen gesicherten Status zu besitzen, hat sie ihn doch – in ihrer katholischen Variante – zu einem ihrer Sozialprinzipien ausgearbeitet. Welche Bedeutung kommt aber der Solidarität und ihrer Begründung innerhalb der christlichen Sozialethik zu, nachdem der Solidarismus sich als eine zeitbedingte, heutigen ethischen Begründungsansprüchen nicht mehr genügende Denktradition erwiesen hat? Ist der Solidaritätsbegriff als typisch moderner Begriff trotz seiner historisch erst relativ kurzen Beheimatung innerhalb des christlich-sozialen Denkens als unverzichtbar für die christliche Sozialethik aufweisbar? Solche und ähnliche Fragen standen im Hintergrund, als die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Sozialethik sich in ihrem Werkstattgespräch des Jahres 2006 mit dem Thema Solidarität beschäftigte und so den Grundstein für den 48. Band des Jahrbuchs für Christliche Sozialethik legte. Keine abschließenden, aber erste Antworten auf die aufgeworfenen Fragen enthält der vorliegende Band. Es ist die Vielgestaltigkeit des Solidaritätsbegriffs, die ihn einerseits ergiebig macht im Hinblick auf die Formulierung sozialethischer ebenso wie politischer oder auch pastoraler Optionen, die andererseits aber seine Handhabung in all diesen Zusammenhängen auch schwierig macht: Stets muss die Frage neu geklärt werden, wie der Solidaritätsbegriff im Einzelfall verstanden und interpretiert wird, welche Ausdehnung er hat und wie er gegenüber anderen Begriffen abzugrenzen ist, gegenüber dem Begriff der (sozialen) Gerechtigkeit vor allen Dingen. Dass von ‚Solidarität‘ unbedarft oder unreflektiert die Rede ist, kann man zumindest der katholischen Sozialethik nicht vorwerfen, in der es nicht an Versuchen mangelt, dem Begriff Konturen und ein Profil zu verleihen und ihn als spezifisch christlich-sozialethisches Prinzip zu etablieren und am Leben zu halten. So umfassend durchaus auch innerhalb der katholischen Sozialethik das Spektrum der Interpretationen ist, so scheint es doch ein gemeinsames Merkmal zu geben, das sie vom Solidaritätsbegriff der Tradition des (politischen) Liberalismus unterscheidet, nämlich der Einschluss einer Gerechtigkeitsbewandtnis: In der sozial-katholischen Tradition wird Solidarität nicht nur als Liebespflicht – in freilich ganz unterschiedlichen Ausformungen – verstanden, sondern sie reicht in den Bereich der Rechtspflichten hinein und erhält damit eine unbedingte Bedeutung im Hinblick auf Fragen der Sozialstaatsbegründung und der weltweiten Entwicklung. Dieses Verständnis schließt ein aufwendigeres Begründungsverfahren ebenso ein wie die Notwendigkeit einer präzisen Abgrenzung gegenüber dem Gerechtigkeitsbegriff, und dies natürlich nicht nur im Hinblick auf Grundlegungsfragen, sondern auch im Hinblick auf die konkreten Anwendungsfragen – der vorliegende Band spiegelt das wider. Hermann-Josef Große Kracht verfolgt das solidaristische Denken zu seinen Ursprüngen zurück und stellt seine Entwicklungslinien dar. Als vielgestaltig erweisen sich Solidarität und Solidarismus bereits in ihrer frühen Entwicklungsgeschichte, in der sich heutige Divergenzen im Solidaritätsverständnis schon andeuten. Solche Divergenzen werden in den Beiträgen von Andreas Wildt und Thomas Fiegle ausführlich thematisiert: Wildt interpretiert Solidarität – in Abgrenzung zu verschiedenen gegenwärtig vertretenen Positionen – als Strukturbegriff politisch-sozialer Gerechtigkeit und stellt sie damit in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gerechtigkeitsbegriff, von dem er sie zugleich präzis unterscheiden kann. Defizite gerade im Hinblick auf den Zusammenhang von Solidarität und Gerechtigkeit kritisiert Fiegle an der solidaristischen Tradition der französischen Soziologie, womit er aus der Sicht einer an Kant anschließenden Ethik wichtige Gesichtspunkte eines Solidaritätsverständnisses betont, das in gewisser Hinsicht dem der katholischen Tradition entspricht. Traugott Jähnichen entfaltet in seinem Beitrag Grundzüge eines evangelischen Solidaritätsverständnisses bzw. erläutert unterschiedliche Bedeutungsschwerpunkte zu unterschiedlichen Zeiten – freilich erhält dabei nicht nur ein ‚evangelisches Solidaritätsdenken‘ Konturen, sondern es wird auch deutlich, dass das starke sozialethische und auch sozialpolitische Profil eines Solidaritätsprinzips in der katholischen Theologie verwurzelt und wohl nach wie vor auch dort beheimatet ist. Dennoch können gerade aus einer weniger – durch die Tradition – voreingenommenen Perspektive Impulse für eine präzisere Zuordnung und Abgrenzung der Leitbegriffe Fürsorge bzw. Barmherzigkeit, Solidarität und Gerechtigkeit formuliert werden. Ähnliches gilt für Johannes Frühbauers noch weiter – auf Islam, Buddhismus und Konfuzianismus – ausgreifende Perspektive, in dem Zugänge zum Solidaritätsverständnis aufgedeckt werden, die zwar zum Teil weit entfernt sind vom Solidaritätsdiskurs der christlichen Sozialethik und der westlichen politischen Philosophie, aber doch Berührungspunkte zu unseren Traditionen aufweisen und jedenfalls dann von Interesse sind, wenn man die christliche Sozialethik auch in Richtung einer interreligiösen Sozialethik weiterentwickeln möchte, was gegenwärtig in jeder Hinsicht geboten erscheint. Einen großen systematischen Entwurf der Solidarität als universales ethisches Konzept legt Christoph Hübenthal vor. Ausgehend von der Idee einer universalen Solidargemeinschaft, wird in einem philosophischen wie in einem theologischen Begründungsgang das Fundament für eine Konzeption universaler Solidarität gelegt. Dieses universale Solidaritätskonzept wird schließlich in seinen Grundzügen skizziert. In verschiedener Hinsicht kritisiert Burkhard Liebsch die Konzeption Hübenthals, wobei er insbesondere den partikularen Charakter der Solidarität thematisiert, der in gewisser Hinsicht quer zu einem universalen Solidaritätsverständnis steht (worauf Hübenthal seinerseits allerdings auch hinweist). Kritisch steht Liebsch mit seinen Ausführungen einem gewissen ‚Solidaritäts-Optimismus‘ gegenüber, den er für irreführend und – vor allem vor dem Hintergrund einer sich einseitig in ökonomischen Kategorien vollziehenden Globalisierung – für beschönigend hält. Mit der Legitimierung sozialer Sicherungssysteme setzen sich die Beiträge von Monika Bobbert, Elmar Nass und P. Clemens Dölken auseinander, wobei sie sehr unterschiedliche Wege einschlagen: Bobbert beansprucht für ihren Begründungsgang einen an Alan Gewirth anschließenden neokantianischen Hintergrund. Vermittels des Handlungsbegriffs und der Rekonstruktion von Grundlagen menschlichen Handelns in Gesellschaft wird diese neokantianische Perspektive freilich recht weit in Richtung einer materialen Ethik ausgedehnt, indem handlungsrelevante Güter bestimmt werden. Nass beansprucht eine neoaristotelischen Argumentationsgrundlage und stellt Bezüge zu Amartya Sen her. Clemens Dölken argumentiert demgegenüber dezidiert aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik und kommt dabei zu einem für manche vielleicht überraschend elaborierten Solidaritäts- und Sozialstaatskonzept – überraschend, weil der Solidaritätsbegriff in der Neuen Institutionenökonomik traditionell unterbestimmt und schlagwortartig eingesetzt wird, im vorliegenden Beitrag aber zweifellos nicht. Christoph Mandry konturiert in seinem Beitrag das Profil einer europäischen Bürgersolidarität. Dabei überträgt er nicht einfach etablierte nationalstaatliche Solidaritätsstandards auf die europäische Ebene, sondern entwirft ein spezifisch europäisches Solidaritätskonzept, das sorgfältig einerseits gegenüber der nationalstaatlichen und andererseits gegenüber der globalen Ebene abgegrenzt sein muss. Joachim Wiemeyer thematisiert vor allem die Dimensionen der Umverteilung und der Gemeinschaftstreue im Hinblick auf die Europäische Union. Verschiedene Aspekte der Solidarität erscheinen im Hinblick auf unterschiedliche Politikbereiche in der EU zum Teil angemessen, zum Teil aber auch nicht angemessen. Wiemeyer diskutiert in dieser Hinsicht die Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Solidarität. Eine eher gerechtigkeitstheoretische Perspektive nimmt Elke Mack in ihren Beitrag zur ‚globalen Solidarität mit den Armen‘ ein. Insgesamt zeugen die Beiträge gerade in ihrer Unterschiedlichkeit von einem lebendigen Diskurs über einen traditionellen Begriff. Dass dieser Diskurs verstärkt aus der katholischen Sozialethik heraus interdisziplinär mit Philosophie und Sozialwissenschaften geführt sowie ökumenisch und interreligiös erweitert wird, dient zweifellos der weiteren Profilierung des Solidaritätsbegriffs als ureigenstes Prinzip katholisch-sozialen Denkens. Herzliche Glück- und Segenswünsche gelten in diesem Jahr den Kollegen Edgar Nawroth zum 95. Geburtstag, Karlheinz Peschke zum 75. Geburtstag, Friedhelm Hengsbach, Norbert Glatzel und Johannes Hoffmann zum 70. Geburtstag sowie Wolfgang Ockenfels und Konrad Hilpert zum 60. Geburtstag. Ihnen gilt auch ein aufrichtiger Dank für ihre Verdienste um die christliche Sozialethik! Im dritten Jahr bereits erscheint das Jahrbuch nun im Münsteraner Aschendorff-Verlag, dem mein Dank für die gute Zusammenarbeit gilt. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die Förderung des Jahrbuchs. Schließlich danke ich der Jahrbuch-Redaktion am ICS, Christian Spieß und Eva Schröer. Münster, im Juni 2007 Karl Gabriel

Inhaltsverzeichnis

I. BEITRÄGE

  • HERMANN-JOSEF GROSSE KRACHT: Jenseits von Mitleid und Barmherzigkeit? Zur Karriere solidaristischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert
  • ANDREAS WILDT: Solidarität als Strukturbegriff politisch-sozialer Gerechtigkeit
  • THOMAS FIEGLE: Ist Solidarität eine soziale Schuld? Zur Kritik des französischen Solidarismus aus kantianischer Sicht
  • TRAUGOTT JÄHNICHEN: Solidarität als Begriff der evangelischen Theologie und Sozialethik
  • JOHANNES J. FRÜHBAUER: Solidarität im Islam, Buddhismus und Konfuzianismus. Bausteine für eine interreligiöse Sozialethik
  • CHRISTOPH HÜBENTHAL: Taugt Solidarität als universales ethisches Konzept?
  • BURKHARD LIEBSCH: Originäre Solidarisierung versus Pseudo-Solidität. Kritische Anmerkungen zur aktuellen Theorie-Diskussion um Solidarität
  • MONIKA BOBBERT: Pflicht zur Solidarität? Zur Legitimität sozialer Sicherungssysteme
  • ELMAR NASS: Humangerechte Solidarität. Ein Thesenanschlag zur Reformation sozialer Sicherung
  • CLEMENS DÖLKEN: Solidarität als Positivsummenspiel. Sozialstaatsbegründung in der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik
  • CHRISTOF MANDRY: Zwischen Zugehörigkeitsbewusstsein und Bürgerrechten. Solidarität als normatives Orientierungsprinzip der Europäischen Union
  • JOACHIM WIEMEYER: Solidarität in der EU-Politik: Anwendungsfelder und Implementationsprobleme
  • ELKE MACK: Globale Solidarität mit den Armen

Zur Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses in der katholischen Theologie: Forschungsbericht

„Mittendrin und nicht dabei?“ Beteiligung, Inklusion und Integration in Deutschland

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