Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 45 (2004): Gesellschaftsbilder im Diskurs der WissenschAft - Aktuelle Herausforderungen für die Christliche Sozialethik
Vorwort
Heute von Gesellschaftsbildern im Diskurs der Wissenschaften zu sprechen, mutet zunächst anachronistisch an; ist man sich doch quer durch alle Wissenschaften einig, dass die Gegenwart durch eine sprunghafte Kontingenzerweiterung und Dekonstruktion bisher geltender Gesellschaftsbilder und Leitorientierungen geprägt ist. Die Schwelle des Jahres 1989 scheint eine weitreichende Zäsur zu markieren. Mit dem Ende des real existierenden Sozialismus hat der Marxismus als umfassendes Welterklärungs- und Gesellschaftsmodell binnen weniger Jahre seine Anziehungskraft verloren. Der Glaubwürdigkeitsverlust ist aber beim Marxismus nicht stehen geblieben, sondern hat alle 'großen Erzählungen' infiziert und unter Legitimationsdruck gesetzt. Die Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse – so die systemtheoretische Argumentation – ist so sprunghaft gewachsen, dass die herkömmlichen Deutungsangebote für das gesellschaftliche Ganze ihre Grundlage eingebüßt haben. Alle Welt- und Gesellschaftsbilder sehen sich in einen neuen globalen Horizont der Vielfalt und Pluralität von Kulturen, Milieus und Lebensstilen hineingestellt. Damit wächst das Bewußtsein von Kontingenz, Relativität und Partikularität aller Vorstellungen von Gesellschaft und Welt. Die Wissenschaft – an vorderster Stelle die Natur- und Biowissenschaften, die 'Lebenswissenschaften' – haben neue Räume des Wissens geöffnet und die Breite und Tiefe technischer Eingriffsmöglichkeiten um ein Vielfaches erhöht. Aber auch die Deckungsgleichheit von kulturell homogenem Volk, einzelstaatlicher Souveränität und volkswirtschaftlicher Steuerbarkeit hat sich – artikuliert unter der Chiffre der Globalisierung – weitgehend aufgelöst und konfrontiert uns mit neuartigen ökonomischen und ökologischen Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund sind die Diskurse der Wissenschaften – so ein erstes Resümé – heute eher auf Dekonstruktion und nicht auf Konstruktion von Gesellschaftsbildern eingestellt.
Möglicherweise bleibt aber die Diagnose einer Distanz und Abstinenz der Wissenschaften gegenüber Gesellschaftsbildern und -modellen nicht das letzte Wort. Es spricht vieles dafür, dass die unterschiedlichen Modelle, mit denen die Wissenschaften arbeiten, nicht ohne mehr oder weniger implizit bleibende Vorstellungen von Gesellschaft und ihren Ordnungsformen auskommen. Heute drängt sich die Frage auf, ob nicht längst innerhalb der Wissenschaften – wenn auch eher latent als manifest – eine Auseinandersetzung um hegemoniale Ansprüche zur Produktion und Legitimation von Gesellschaftsbildern im Gang gekommen ist. Von dieser Vermutung lässt sich der vorliegende Band 45 des Jahrbuchs für Christliche Sozialwissenschaften leiten.
In einem ersten Teil wird der Diskurs in den so genannten 'life sciences', in der Medizin, der Biowissenschaft und der Soziobiologie, auf Vorstellungen und Visionen künftigen gesellschaftlichen Zusammenlebens befragt. Dietmar Mieth geht von der These aus, dass Wissenschaft und Religion inzwischen ihre traditionellen Rollen getauscht haben. Die Gefahr der Bevormundung der Gesellschaft geht heute für Mieth in weit stärkerem Maße von der Wissenschaft als von der Religion aus. Mieth fordert dagegen einen offenen und fairen Diskurs über Gesellschaftsbilder und Welterklärungen, zu dem alle gleiche Chancen des Zutritts und der Beteiligung haben müssen. Am Beispiel der Fortpflanzungsmedizin und der Frage nach dem Umgang mit embryonalen Stammzellen verweist Mieth auf die Schwierigkeiten, in die der ethische Diskurs angesichts der hegemonialen Ansprüche der neuen 'Götter' der säkularen sozialen Entwicklung – Wissenschaft, Technik und Ökonomie – heute gerät. Elisabeth Hildt geht in ihrem Beitrag den Wandlungen und Problemen nach, die sich für das zentrale medizinethische Prinzip der Autonomie in den Feldern der prädiktiven genetischen Diagnostik und der angewandten Neurowissenschaften ergeben. In einem dritten Zugang zum Thema sucht Axel Heinrich zu verdeutlichen, dass die sich als biologische Wissenschaft verstehende neuere Soziobiologie in ihrem Programm eine Sicht des Politischen erkennen lässt, die sich mit den Prinzipien der Menschenrechte und der politischen Egalität schwer tut, der Demokratie ambivalent gegenüber steht und eine Affinität zum politischen Diskurs der Neuen Rechten aufweist.
Der zweite Teil der Jahrbuchs wendet sich Gesellschaftsbildern und Gesellschaftsmodellen in Ökonomie und Ökologie zu. Manfred Prisching verweist darauf, dass sich die Ökonomie heute in einer multiparadigmatischen Phase mit einer Vervielfältigung der Gesellschaftsbilder befindet, wobei er dem ökonomischen Globalisierungsmodell mit seiner Vision eines einheitlichen Weltmarkts eine dominierende Stellung einräumt. Jochen Ostheimer und Markus Vogt machen auf die Ambivalenzen in den gesellschaftstheoretischen Visionen im ökologischen Diskurs aufmerksam. Diese zeigen sich insbesondere in den Bereichen 'global governance', im Fortschrittsverständnis und im Konflikt um einen ökologischen Umbau der Wirtschaft. Zum Konzept der Nachhaltigkeit und zum umweltethischen Prinzip der Verantwortung sehen die beiden Autoren aber keine Alternative. Ein fest vereinbarter Beitrag zu den Gesellschaftsbildern im Diskurs der Systemtheorie ist leider nicht zustande gekommen.
Gesellschaftskonzeptionen in Feminismus und Christentum stehen im Zentrum des dritten Teils des Jahrbuchs 2004, in dem es um ethische Positionierungen zu den aktuellen Veränderungen und Verschiebungen in den 'Bildern' des Gesellschaftlichen geht. Christa Schnabls Beitrag zeichnet den Weg der feministischen Theorie von fundamentaler Gesellschaftskritik zu der heute sich aufdrängenden Frage nach, welche Gesellschaft im Namen der Frauen, Männer und Kinder als wünschbar angesehen werden könne. Sie ordnet die feministischen Gesellschaftskonzeptionen um die Pole einer liberalen, mütterlichen und aktiven Gesellschaft und zeigt, wie die feministischen Gesellschaftsentwürfe in spezifischer Weise mit Konzeptionen der gegenwärtigen gesellschaftstheoretischen Debatte korrelieren, mit der Neuverortung von asymmetrischen Fürsorgebeziehungen aber ein eigenständiges, den gängigen Vertragstheorien gegenüber kritisches Moment einbringen. Jürgen Manemann bringt die Gesellschaftskonzeption der Neuen Politischen Theologie in der Nachfolge von Johann Baptist Metz als Gegenhorizont zum Eurotaoismus Peter Sloterdijks zur Geltung. Den Abschluss des thematischen Teils bildet Andreas Lienkamps Erinnerung an Theodor Steinbüchels Konzeption einer christlichen Sozialethik, die sich in enger Verbindung mit dem jüdischen Messianismus am Gedanken des Reiches Gottes orientiert.
An den thematischen Teil des Jahrbuchs schließen sich auch in diesem Jahr wieder Berichte aus der aktuellen sozialethischen Diskussion an. Christa Schnabl präsentiert die zentralen Ergebnisse vom 'Berliner Werkstattgespräch 2003', in dem es um Leitbilder und politische Konzeptionen der 'Familie' ging. Johannes J. Frühbauer und Axel Bohmeyer berichten von 'Forum Sozialethik 2003', das sich diesmal den Grundlagen und dem Profil der Christlichen Sozialethik und der Sozialethik kirchlichen Handelns widmete. Ein Bericht vom 'Workshop Ethik' ist in diesem Jahr nicht eingegangen.
Herzliche Glück- und Segenswünsche ergehen in diesem Jahr an Bernhard Fraling und Theodor Herr zum 75. Geburtstag und an Peter Inhoffen und Bruno Schlegelberger zum 70. Geburtstag. Hans Halter vollendet das 65. und Hans-Jürgen Münk das 60. Lebensjahr. Herzliche Glückwünsche und Gottes Segen für viele weitere Jahre!
Danken möchte ich allen, die zum Gelingen des Bandes 45 beigetragen haben. Zunächst sind dies die Autorinnen und Autoren, die sich auf ein Thema eingelassen haben, das zu einem Schritt über den alltäglichen Horizont des Theorietreibens hinaus einlud. Ohne die immer anregende und produktive Zusammenarbeit mit Hermann-Josef Große Kracht als dem verantwortlichen Redakteur des Jahrbuchs wäre der Band in der vorliegenden Form sicher nicht entstanden. Christian Griese und Iris Schwöppe haben mit viel Elan und Geschick neu die Aufgabe übernommen, die Texte für die Drucklegung vorzubereiten. Dank geht auch für die gute und reibungslose Zusammenarbeit an das Verlagshaus Regensberg sowie an die Deutsche Forschungsgemeinschaft für ihre großzügige Unterstützung.
Münster, im Februar 2004
Karl Gabriel
Inhaltsverzeichnis
I. Gesellschaftsbilder in den Lebenswissenschaften
- Dietmar Mieth: Menschenwürde und Lebensrechte im technischen Reproduktionszeitalter. Wandlungen in der Wissensgesellschaft und ihre Auswirkungen auf Bioethik und Biopolitik
- Elisabeth Hildt: Autonomie. Von den Implikationen eines politisch-moralischen Ideals in Humangenetik und Neurowissenschaften
- Axel Heinrich: Gesellschaft 'am langen Band der Gene' (E.O.Wilson).
II. Gesellschaftsbilder in Ökonomie und ÖKologie
- Manfred Prisching: Gesellschaftsmodelle der Ökonomen. Konstruktionen des Wirtschaftens im globalen Zeitalter
- Jochen Ostheimer/Markus Vogt: Neue Maße für Fortschritt. Gesellschaftsvisionen im ökologischen Diskurs
III. Ethische Positionierungen
- Christa Schnabl: Nach dem Patriarchat. Gesellschaftskritik und Gesellschaftskonzeptionen im Feminismus
- Jürgen Manemann: Politische Gegenreligion. Theologisch-politische Einsprüche in der 'Berliner Republik'
- Andreas Lienkamp: Das Reich Gottes als Zielperspektive christlicher Sozialethik. Inspirationen aus dem christlich-jüdischen Dialog und aus der Theologie Theodor Steinbüchels
IV: Berichte
- Christa Schnabl: Familie – Leitbilder und politische Konzepte in der Genderperspektive. Ein Bericht vom 'Berliner Werkstattgespräch' der SozialethikerInnen 2003
- Johannes J. Frühbauer/Axel Bohmeyer: 'Retheologisierung' der Christlichen Sozialethik? Bericht vom 'Forum Sozialethik' 2003
- Mitteilungen aus der deutschsprachigen Sozialethik: Aktuelle Projekte