Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 34 (1993): Frauenfragen – Frauenpolitik

Vorwort

»Die Frau, die sich ihrer Menschenwürde heutzutage immer mehr bewußt wird, ist weit davon entfernt, sich als seelenlose Sache oder als bloßes Werkzeug einschätzen zu lassen; sie nimmt vielmehr sowohl im häuslichen Leben wie im Staat jene Rechte und Pflichten in Anspruch, die der Würde der menschlichen Person entsprechen.«

Was vor 30 Jahren Johannes XXIII. in seiner Enzyklika »Pacem in terris« mit diesen Worten als »Zeichen der Zeit« hervorhob (neben dem Aufstieg der Arbeiterklasse und dem Freiheitswillen der unter Fremdherrschaft stehenden Völker), hat auch heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil hat die sogenannte Frauenfrage, befördert durch vielfältige Impulse insbesondere aus der sog. zweiten Frauenbewegung bzw. dem Feminismus, in der Gesellschaft, in den Kirchen und auch in den Wissenschaften an Bedeutung und Beachtung gewonnen. Die Frauen sind in allen Bereichen des öffentlichen Lebens sichtbar geworden und melden sich verstärkt mit ihren eigenen Interessen zu Wort. Eine Folge dieser Entwicklung ist, daß sich das Bewußtsein vieler - männlicher und weiblicher - Zeitgenossen heute dafür zu öffnen beginnt, daß die »Frauenfrage« auch eine Männerfrage ist. Letzten Endes kann daher nicht eine Fortsetzung des »Geschlechterkampfes« mit umgekehrten Vorzeichen, sondern nur eine grundlegende Neuordnung der Geschlechterbeziehungen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Miteinanders dem Ziel der Bemühungen um ein wirklich menschenwürdiges und menschenfreundliches Zusammenleben entsprechen.

In diesem Horizont und mit Blick auf die gegenwärtige Wirklichkeit erschließt sich eine Fülle sozialethisch brisanter Anfragen und Probleme. Die Beiträge des vorliegenden Jahrbuch-Bandes zum Rahmenthema »Frauenfragen - Frauenpolitik« wollen hier - sowohl in grundlegenden ethischen Reflexionen als auch in der Erörterung konkreter politischer Herausforderungen - Probleme verorten, Perspektiven eröffnen und Desiderate künftiger sozialethischer und politischer Arbeit benennen.

Die erste Gruppe der Beiträge gibt einige grundlegende Orientierungen zur Frauenfrage: Während Henny Engels in ihrem einführenden Beitrag soziologische Perspektiven auf die Lebenswirklichkeit von Frauen in der gegenwärtigen Situation in Deutschland eröffnet und konkrete Problemfelder (von unter veränderten Bedingungen weiter wirkenden sozialen Rollenmustern bis hin zu offener und versteckter Gewalt gegen Frauen) benennt, erörtern die folgenden Beiträge verschiedene Zugänge zur gesellschaftlichen Wahrnehmung und Bearbeitung der »Frauenfrage«: Konrad Hilpert befaßt sich mit dem menschenrechtlichen Aspekt der Frage, indem er die moderne europäische Menschenrechtstradition auf ihre faktische Partikularität hin befragt (»Männerrechte«), die von Frauen eingeklagten und erstrittenen Erweiterungen (»Frauenrechte«) diskutiert und vor dem historischen Hintergrund Desiderate einer heutigen, dem Gleichberechtigungspostulat Rechnung tragenden Menschenrechtsethik entwickelt. Dieter Witschen greift das vor allem in den USA diskutierte Problem der »umgekehrten Diskriminierung« auf, die als Folge bestimmter Strategien zur Durchsetzung gesellschaftlicher Gleichstellung für benachteiligte Gruppen eintritt. Diese ethische Problematik, die dort insbesondere im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Benachteiligung von Schwarzen virulent ist, steht hierzulande in der Diskussion um Quotenregelungen zur Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen auf der Tagesordnung. Die ethischen Schlußfolgerungen aus der von Witschen dargelegten Problematik werden deshalb im Einverständnis mit dem Autor in einer redaktionellen Anmerkung am Schluß des Beitrags auf die Thematik dieses Jahrbuchs zugespitzt. Ein weiterer Grundsatzbeitrag, der die Relevanz der Frauenfrage als Männerfrage beleuchten sollte, mußte leider kurzfristig abgesagt werden.

Die zweite Gruppe der Beiträge ist der konkreten frauenpolitischen Wirklichkeit in Deutschland gewidmet, und zwar unter dem speziellen Gesichtspunkt der Bildungspolitik. Anhand eines von der Redaktion ausgearbeiteten Fragenkatalogs haben Politikerinnen verschiedener Parteien und Tätigkeitsfelder - Carola von Braun (F.D.P.), Ursula Männle (CSU), Antje Rush (Bündnis 90/Die Grünen) und Christine Schmarsow (SPD) - zur derzeitigen Situation und zu den sich daraus ergebenden Desideraten einer frauenfördenden Bildungspolitik sowie zu ihren eigenen Erfahrungen in der Politikgestaltung Stellung genommen. Im Konzert der hier zu Wort kommenden Stimmen klingen - praxis- und erfahrungsbezogen - etliche Themen an, die politisch wie wissenschaftlich intensiverer Bearbeitung bedürfen (angefangen von der Diskussion um den Wert der Koedukation über die Frage nach notwendigen Rahmenbedingungen einer Durchbrechung überholter Rollenmuster in der Erziehung bis hin zu geeigneten Wegen der Förderung und Qualifizierung von Frauen für gesellschaftliche und wissenschaftliche Spitzenstellungen). Für die christliche Sozialethik bedeutet dies - neben notwendigen Neuorientierungen im interdisziplinären Gespräch (etwa mit Psychologie und Soziologie) - vor allem eine Herausforderung auf der Ebene der Grundlagenarbeit, der anthropologischen Prämissen, der Öffnung auf bisher vergessene oder mißachtete Quellen der Wahrnehmung etc.

Auf die Ebene der Fundierung einer christlichen Sozialethik, die dem Anliegen der Gleichwertigkeit der Geschlechter ohne »Uniformierung« im konkreten Menschsein gerecht wird, zielt deshalb die dritte Gruppe der Beiträge, die zugleich einen Einblick in die Bandbreite von Ansätzen, Zugängen und Stilen theologischer Frauenforschung vermittelt. Sie wird eröffnet mit den exegetischen und bibeltheologischen Darlegungen von Christoph Dohmen zu den biblischen Texten, die in nahezu allen ethischen und theologischen Überlegungen zur Frauen- bzw. Geschlechterfrage herangezogen werden: Gen 1-3. Daran anschließend fragt Marianne Heimbach-Steins nach der Wahrnehmung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen in der bisherigen (sozial-)ethischen Reflexion, nach Ursachen der weitgehenden Vernachlässigung dieses anthropologischen Grunddatums und nach Perspektiven einer Neuwahrnehmung im Rahmen ethischer Systematik. Möglichkeiten einer Durchbrechung von Wahrnehmungsgrenzen zeigt auch Elisabeth Gössmann auf, die in ihrem Beitrag auf vergessene Schätze theologischer Frauentraditionen aufmerksam macht und fragt, inwiefern theologische Frauenforschung ein Veränderungspotential für theologische Ethik bereitstellen kann. Eine theologisch-ethische Orientierung zur Frauen- und Geschlechterproblematik kann heute nicht an jenen Ansätzen feministischer Theologie und Ethik vorbeisehen, die explizit mit dem Anliegen angetreten sind, eine eigene Frauenperspektive zu artikulieren und alternative Zugänge zur Deutung und Gestaltung der Wirklichkeit zu entwickeln. Beatrix Schiele stellt deshalb Ansätze feministischer Ethik vor und fragt nach neuen Perspektiven, die einer christlichen Sozialethik daraus erwachsen können.

Die Miszellen von Ulrike Iken zur Frauenforschung aus psychologischer Sicht und von Elisabeth Jünemann zur gesellschaftlichen Situation erwerbstätiger Mütter nehemn Gesichtspunkte auf, die bereits in verschiedenen Beiträgen anklingen, und vertiefen sie im Rückgriff auf empirische Erfahrungen.

Wie schon in den vergangenen Jahren erscheint unter der Rubrik Bericht eine Information über die letztjährige Tagung des Forum Sozialethik. Unter Federführung von Johanna Bödege-Wolf, die auch den Bericht verfaßt hat, und Joachim Wiemeyer galt sie der Frage nach dem Gegenstandsbereich des Faches »Christliche Sozialethik«.

Im weiteren Sinne dem Thema des Jahrbuchs zugeordnet ist auch die - in diesem Band erstmals eingerichtete - Aktuelle Glosse, die auch künftig zur Diskussion »ad hoc« aufkommender Fragen zur Verfügung stehen soll. Der Herausgeber nimmt darin Stellung zum Fall des sog. »Erlanger Babys«. Weit über den konkreten Fall hinaus hat diese Diskussion die Aufmerksamkeit auf wesentliche Aspekte und Rahmenbedingungen (sozial-) ethischer Entscheidungsfindungsprozesse gelenkt, die gerade in medizinischen Grenzfällen auf dem schmalen Grat zwischen Sicherung und Infragestellung des Humanen ausbalanciert werden müssen.

Dem Gedächtnis des im September 1991 verstorbenen Franz Groner ist unter der Rubrik In memoriam der Beitrag von Lothar Roos gewidmet.

Unmittelbar vor Drucklegung des Jahrbuchs erreichte uns die Nachricht vom frühen Tod des Kollegen Wilhelm Dreier, der am 27. Februar 1993, nur zehn Tage nach seinem 65. Geburtstag, starb. Seit 1968 Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialwissenschaften in Würzburg und Gründer des dortigen Instituts, war Wilhelm Dreier in den Jahren 1958-1967 als Assistent Joseph Höffners am ICS in Münster tätig, wo er zum Dr. theol. und zum Dr. rer. pol. promoviert wurde. Als erster Laie wurde er 1967 in Mainz für das Fach Christliche Sozialwissenschaften habilitiert. Pionierarbeit leistete er insbesondere in der Öffnung der Sozialethik für die ökologische Problematik, nicht zuletzt im Aufbau eines interdisziplinären Forschungsschwerpunktes und in einschlägigen Publikationen. – Im Alter von 60 Jahren verstarb am 19. September 1992 in Lublin der dort lehrende Kollege Joachim Kondziela. Als Professor für Sozial- und Wirtschaftsethik an der Katholischen Universität war er in seiner umfangreichen wissenschaftlichen Tätigkeit immer auch ein Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Mit dem Dank für ihren Einsatz zur Förderung der christlichen Sozialethik verbinden sich herzliche Segenswünsche für die emeritierten Kollegen Arthur F. Utz OP zum 85. und Hermann-Josef Wallraff zum 80. Geburtstag. Den Kollegen Wilhelm Dreier, Anton Rauscher und Rudolf Weiler gelten unsere Glückwünsche zum 65., Valentin Zsifkovitz zum 60. Geburtstag.

Schließlich sei allen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben, insbesondere den Autorinnen und Autoren, aber auch den Mitarbeitern des Hauses Regensberg an dieser Stelle herzlich Dank gesagt.

Münster, im Januar 1993

Franz Furger,
Marianne Heimbach-Steins

Inhaltsverzeichnis

I. Grundlegende Orientierung zur Frauenfrage

  • Henny Engels: Zur Situation von Frauen in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland – Soziologische Perspektiven
  • Konrad Hilpert: Menschenrechte: Männerrechte – Frauenrechte?
  • Dieter Witschen: Umgekehrte Diskriminierung - ein ethisch geeigneter Weg zur Herstellung von Gleichheit?

II. Standpunkte zur Frauenpolitik in Deutschland am Beispiel der Bildungs- und Wissenschaftspolitik

  • Einleitung (Redaktion)
  • Carola von Braun (FDP)
  • Ursula Männle (CSU)
  • Anthe Rush (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
  • Christine Schmarsow (SPD)

III. Theologische Frauenforschung als Faktor der Erneuerung Christlicher Sozialetik

  • Christoph Dohmen: Ebenbild Gottes oder Hilfe des Mannes? - Die Frau im Kontext der anthropologischen Aussagen von Genesis 1 - 3
  • Marianne Heimbach-Steins: »Als Mann und Frau ...« – Grunddatum theologischer Anthropologie – Herausforderung christlicher Sozialethi
  • Elisabeth Gössmann: Theologiegeschichtliche Frauenforschung als Veränderungspotential theologischer Ethik?
  • Beatrix Schiele: Lebensfülle für alle – feministische Ethik zwischen den Lehrstühlen

 IV. Miszellen

  • Ulrike Iken: Frauenforschung: Wege im Unwegsamen
  • Elisabeth Jünemann: Erwerbstätigkeit der Mütter – eine Frage der Zeit

 V. Berichte

  • Johanna Bödege-Wolf: Was ist Gegenstand des Faches Christliche Sozialethik?Bericht über die 3. Tagung des Forum Sozialethik

 VI. Aktuelle Glosse

  • Franz Furger: Das »Erlanger Baby« – eine sozialethische Reflexion

In memoriam

  • Lothar Roos: Glaube und Kirchlichkeit in der spätliberalen Gesellschaft – In memoriam Franz Groner

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