Theologie als freiheits- und geschichtssensible Herrschaftskritik in der Dialektik der Moderne
1) Rahmen. Theologisch ist die Forschung in Ansatz und Gehalt dem emanzipatorischen Kern des Glaubens an einen Gott verpflichtet, der radikal für die Menschen in ihrer konkret-geschichtlichen Verfasstheit ist. Diesen Kern gilt es so zu artikulieren, dass er konkret auf gesellschaftliche Befreiungsprozesse einwirkt – ohne dabei die Autonomie menschlicher Prozesse in ein heteronomes Paradigma zurückzuführen.
Ich bin von der intrinsisch öffentlichen und weltgewandten Berufung der Theolog*innen überzeugt. Dabei wähle ich einen Zugang, der sich ehrlich und fair den Anfragen säkularer Denkansätze in Philosophie und Humanwissenschaften stellt und Momente der Verunsicherung zulässt. Gleichzeitig denke ich, dass der Inhalt des Glaubens selbst zu einer theologisch motivierten, jedoch nicht zwingend (explizit) theologisch geprägten Beschäftigung mit gesellschaftlichen Fragen führt, welche wiederum das Gewinnen von Mitteln für eine adäquate Bestimmung des Gegenstandes und dessen emanzipatorischer Kritik einfordert. Dies ist für mich Gegenstand eines sozialen und zivilen Engagements der Theologie auch in nicht-kirchlichen Räumen.
(2) Methodisch. Sowohl als Implikat des theologischen Vorzeichens eines Gottes, der andere Freiheit will (Eigenstand von Mensch und Welt gegenüber Gott als gottgewollt), als auch als Voraussetzung für eine kritische Arbeit, die auf dem Stand einer selbstreflexiven Moderne steht, muss eine Autonomie menschlicher Freiheit, ihrer Freiheitsgeschichte und ihrer Welt behauptet werden. Methodisch folgt daraus die Orientierung an autonomer Freiheit, die sich selbst auch den ihr eigenen Maßstab gibt und sich selbst als Freiheit wollen muss (in transzendental-reduktiv rekonstruierter Unbedingtheit: v. a. mit Kant, Krings), sich aber nicht anders zugänglich ist als in ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Vermitteltheit – und nicht anders haben kann als in den Prozessen ihrer geschichtlichen Verwirklichung (als situierte Freiheit, in ihrer Abhängigkeit von innerer und äußerer Natur, in der Dialektik des Zivilisationsprozesses als gleichzeitig Bildungs- und Entfremdungsprozess: v. a. mit Hegel und Adorno).Daraus folgt ein zentraler Fragenkomplex: Es besteht eine Korrelation und Spannung zwischen dem immanenten Modus der Kritik (der Ansatz der Kritik ist die Selbstreflexivität von Freiheit, die darüber ihren Unbedingtheitscharakter in Anschlag bringt und die Kritik an der eigenen Widersprüchlichkeit der Verhältnisse ermöglicht) und der das Gegebene transzendierenden Stoßrichtung, sowie zwischen der Orientierung auf eine andere Vermittlung dieser Verhältnisse („diese Welt anders“) und der Radikalität der Einforderung eines anderen Vermittlungsprinzips des Ganzen („neue Welt“). Die Problematik besteht sowohl normativ (Was ist Maßstab der Kritik?) als auch aktuativ (Frage nach dem Subjekt und der Verwirklichungskraft von Kritik und Veränderung). Will keine Überrumpelung von Freiheit und Subjekthaftigkeit des Menschen in Kauf genommen werden, ist Vorsicht geboten im Übergang zu einem Modus direkter Affirmation und abstrakter Abrufung einer äußeren Instanz der Wahrheit und des Prinzips ihrer Verwirklichung – bei gleichzeitiger Notwendigkeit, das Sein-Sollende als gehaltvoll zu intendieren (exemplarisch sichtbar im Vergleich Adorno–Badiou). Bezüglich der Norm impliziert dieser Ansatz, sich auf menschliche, selbstreflexive Freiheit und auf das eigenständige Wirken des Menschen an der Genese und Kritik normativer Ordnungen einzulassen; bezüglich des Handelns impliziert der Ansatz eine Solidarität mit den geschichtlichen Emanzipationsbewegungen und Befreiungsprozessen – im Eingedenken und in der Kritik ihrer eigenen Dialektik.
(3) Theologische Kristallisationspunkte:
a. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Theologischen und dem humanen Maßstab.
Zentral ist die Frage, wie eine Orientierung an einem absoluten Maßstab von Gerechtigkeit und Heil (aber auch normativ an einem Kriterium wie Gottes universaler Heilswille) auf eine Weise möglich ist, die einerseits die gegebenen (Denk- und Handlungs-)Möglichkeiten transzendiert und eine radikale Neuheit einfügt, andererseits jedoch nicht eine Ablösung menschlicher reflexiver Kriterienbildung und Kritik impliziert.
Ein gemeinsames Minimalkriterium ergibt sich aus der Konvergenz zwischen dem theologischen Prinzip der Götzenkritik (dessen Zeichen die erzwungene Minderung und Aufopferung menschlichen Lebens ist) und einer Herrschaftskritik, die eine Gesamtvermittlung der Wirklichkeit anstrebt, in der die Freiheit des Einzelnen nicht geopfert wird (vgl. Klaus Heinrich: „opferbefreite Bündnisse“) – und in der eine „opferlose Nichtidentität des Subjekts“ (Adorno) für alle möglich wird.
b. Soteriologische und eschatologische Bestimmung. Die spezifisch soteriologisch-eschatologische Vorstellung impliziert die Verwirklichung eines freien Ganzen von Beziehungen, zu dem auch ein Moment des Abbruchs des Unheilvollen, der Restitution des Verlorenen und der Reparation des Gebrochenen gehört. Das definitive Heil sowie die Orientierung daran müssen dabei in Solidarität mit Befreiungsbewegungen in der Geschichte gedacht werden. Sie dürfen diese weder ersetzen noch ihre Bedeutung aufheben oder deren spezifisches Drama (auch: Ohnmachtserfahrungen, Rückschläge) zur Nebensächlichkeit erklären.
c. Messianismus. Messianismus stellt die Frage nach der Verbindung zwischen dem Reich Gottes und der Geschichte (Benjamin). Um die Bestimmung der Figur des Messianischen spielt sich die Koordination zwischen Eigenstand und Verwiesenheit ab – zwischen menschlicher Geschichte und göttlichem Heil. Darin liegt aber auch die Möglichkeit von Vermengungen und Kurzschlüssen. An dieser Stelle verortet sich sowohl eine kritische Betrachtung des christologischen Messianismus vor dem Hintergrund jüdischer Vorstellungen als auch die Analyse und Kritik philosophischer Messianismen (insbesondere: Agamben, Badiou, Žižek).
5. Konkrete Themen. In diesem Rahmen wird – auch aus theologischer Motivation, aber im Eigenstand der Ausführung – auf Fragen konkreter Gesellschaftskritik eingegangen. Das Betrifft einerseits fundamentale Aspekte, insbesondere: a. Rechtskritik und Dialektik des Rechtes; b. Allgemeine Theorie von Herrschaft und Gewalt c. Frage nach einer „opferlosen“ Gesamtvermittlung; d. Frage nach dem Modus der Kritik und dem Subjekt der Veränderung. Anderseits werden in dieser Perspektive konkrete Anliegen untersucht: a. Migration und Grenzregime (Fokus: Wie sind Weltverhältnisse möglich, die nicht große Teile der Menschheit aus den Räumen ausschließen, in denen verstärkt Lebensressourcen konzentriert wurden, und dadurch eine Aufteilung der Menschheit erzeugen?); b. Klimagerechtigkeit (Fokus: Wie ist ein gesellschaftliches Naturverhältnis möglich, das nicht einen sich steigernden Widerspruch zwischen lebenserhaltenden Naturprozessen und notwendiger Naturverarbeitung erzeugt und damit Menschen und Gesellschaft in einen Widerspruch zu ihrer Lebensgrundlage setzt?); c. queer-feministische Anliegen (Fokus: Unter welchen realen Bedingungen wird die Auferlegung einer Zwangsidentität und des Zwangs zur Identität aufgebrochen – hin zu einer befreiten Nichtidentität?). Diese Themen werden in Berücksichtigung der Erfahrungen, Praktiken und Erkenntnisse der konkreten sozialen Bewegungen und die involvierten Subjekte behandelt.
Themenbezogene Publikationen:
- Opferlose Nichtidentität in einem anderen Ganzen. Rückfragen zu einem nicht-sakrifikalen Heils- und Glaubensverständnis im Anschluss an Adorno, Verlag Friedrich Pustet: Regensburg, 2024 (ratio fidei 87)
- „ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien …“. Kirche als Praxis der Unterscheidung in universalistischer Absicht – fundamentaltheologische Grundlegungen, in: J.N. Collet / J. Lis, Julia / G. Taxacher (Hgg.), Rechte Normalisierung und politische Theologie: Eine Standortbestimmung, Verlag Friedrich Pustet: Regensburg 2021, 183-210.
- Das Absolute der Macht und absolute Macht oder: Offenbarung als De- und Resemantisierung von Macht. Ein Versuch ausgehend von Michel Foucault, in F. Rass / R. Klein (Hgg.), Gottes schwache Macht, EVA: Leipzig 2017, 209-225.
- Menschenrettung – Rettung des Menschen. Notizen zur Kritik der europäischen Demokratien angesichts des Mittelmeers als Massengrab, in: Eine Welt Netz NRW e.V., Zivile Seenotrettung und wie wir sie überflüssig machen. Berichte, Analysen, Meinungen, Münster 2019, 42-47.
Lehre:
Vorlesung: Religion und Gewalt [026151]
Proseminar mit Tutorium: Einführung in die systematischen Grundfragen der Theologie: Emanzipatorischer Glaube? Eine etwas andere Einübung in die systematische Theologie [024152]
Proseminar: Theologie: unvermeidlich politisch, bewusst politisch. Anregungen zum Selbstverständnis von Theologie durch die „neue politische Theologie" und durch die Theologie der Befreiung [028154]
Blockseminar: Für eine Theologie, die sich einmischt. Befreiungstheologie angesichts unserer gesellschaftlichen Verhältnisse am Beispiel von Flucht und Migration [026219]
Hauptseminar: Zwischen Hoffnung und Utopie. Messianische Dimensionen in der modernen Philosophie und in der Religionsphilosophie Richard Schäfflers [026214]