Kritik des christlichen Antijudaismus als Denkform
(1) Aus systematisch-theologischer Perspektive liegt meines Erachtens der Ernstfall des Problems in der Frage nach einer intrinsischen Anfälligkeit grundlegender Aspekte und Funktionsweisen systematisch-theologischer Auslegung des Christlichen. Es geht dabei nicht nur um die historische Last des christlichen Antijudaismus; nicht nur um das Fortwirken der darin generierten Motive; und auch nicht nur um die Frage, wie sich das Christliche definieren kann, ohne das Jüdische zur Negativfolie, zum Kontrastmaterial oder auch nur zur Grundierung der eigenen Selbstbeschreibung zu degradieren.
Im Zentrum meiner Überlegungen steht die Frage nach der Kategorie der „Vermittlung“. Es scheint mir, dass nicht nur die Behauptung, dass in Jesus Christus und in der Gabe des Geistes die definitive Heilsvermittlung erfolgt sei, problematisch ist – sondern vor allem das Wie dieser Vermittlung gedacht wird. Denn in der Weise, wie diese Vorstellung ausgeformt ist (sowie in den Wirkungsgeschichten der damit verbundenen Motive), liegt eine spezifische und besonders hartnäckige Anfälligkeit für antijudaistische Tendenzen. Diese speist sich daraus, dass sich in ihr Denkformen herausbilden, die strukturelle Analogien zur Funktionsweise des Antisemitismus selbst aufweisen.
(2) Sowohl psychoanalytische und sozialpsychologische als auch gesellschaftskritische Antisemitismustheorien betonen einen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und der Sehnsucht nach Unmittelbarkeit – bzw. dem Versuch, die konkrete, stets neu zu leistende Arbeit der Vermittlung zu umgehen: die Vermittlung des eigenen Ichs, der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Selbstkritik und der Auseinandersetzung mit Differenz, Ambivalenz und Nichtidentität (vgl. Kirchhoff). Antisemitismus erscheint in diesem Licht als eine synthetische „Pathologie“ unerlöster Verhältnisse – mit einer Tendenz zur Regression gegenüber Differenzierung, zur Flucht aus der Aufgabe der Vermittlung, oder zur Behauptung einer bereits gelungenen, realisierten Vermittlung.
(3) Mir geht es darum, darauf aufmerksam zu machen, dass zentrale Kategorien des Christlichen in regressiver Weise abgerufen werden können – nämlich als Preisgabe jener „Aufgabe der Vermittlung“, die den Menschen ausmacht und in der sich das Menschliche vollzieht. Dafür setze ich bei den Kritiken von u.A. Klaus Heinrich, Bela Grunberger, Itzhak Benyamini, Gerhard Scheit an, führe aber eine eigenständige, inner-systematische Kritik durch.
Zwar enthält das Christentum eigene Korrektive gegen Ansätze, die aus einem Mythos der Unmittelbarkeit leben (etwa „gnostische“ Spiritualitäten und Denkformen), sowie gegen die Versuchung zur Selbstidentität in der Unmittelbarkeit. Zwar arbeitet das Christliche mit einer hohen Wertschätzung der Vermittlung – allerdings mit entscheidenden Modifikationen:(a) Verdinglichung der Vermittlung: Wenn das Zentrum der christlichen Verkündigung in der Behauptung liegt, dass in Jesus Christus die vollkommene und definitive Vermittlung des Bundes und des Heils realisiert ist, entsteht die Gefahr, dass die menschliche Aufgabe der Vermittlung in Jesus Christus selbst verdinglicht wird. Dadurch kann der Umgang mit den konstitutiven Spannungen, die den Menschen, seine Welt und seine Geschichte ausmachen (z. B. Geist-Körper, Konkret-Abstrakt, Partikular-Universal, Gott-Mensch), verunmöglicht werden. (b) Abstrakte Identifizierung und Selbstidentität: Dies verändert auch die Haltung, die vom Menschen erwartet wird: Statt in der Aufgabe der Entsprechung im Bund sowie in der Gestaltung des eigenen Humanen als offener und ständig zu leistender Vermittlung zu verbleiben, tritt die Vorstellung in den Vordergrund, an der Vermittlung selbst teilzuhaben und sich mit ihr zu identifizieren. Diese Haltung kann ihre Effektivität aus der Intensität des Aktes beziehen, mit dem sich das Subjekt der geglaubten Wahrheit verschreibt und sie in der Welt präsent macht – was zur unkontrollierten Selbstmobilisierung führen kann. (c) Endzeitliche Dispensation: Mit der Behauptung eines einbrechenden Definitiven – auch als gelungener Vermittlung der Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt – kann eine spiritualisierende Absage an die konkrete Sorge um das Leben und die innerweltliche Vermittlung einhergehen. Die gegenteilige Haltung wird dann dem Jüdischen zugeschrieben und als mangelnde Geistigkeit oder als Anhaftung an das Materielle abgewertet – etwa in der Gegenüberstellung von Liebe/Geist/Glaube versus Gesetz. (d) Abstrakte Universalität: Universalität wird nicht als Realisierung einer Vermittlung verstanden, die allen in ihrer jeweiligen Besonderheit zugutekommt, sondern als Identifikation mit einem allgemeinen Prinzip: dem Willen des Vaters oder der Intention des Sohnes – häufig verstanden als die Haltung der Liebe. Diese wird jedoch oft jenseits konkreter Anwendung auf spezifische Situationen abgerufen – und entzieht sich so der Aufgabe, das Allgemeine mit dem Besonderen zu vermitteln. In dieser Perspektive wird das „Gesetz“ als bloß äußerlich, als unfähig zu wahrer Allgemeinheit, abgewertet.
(4) Unterschiedlich moduliert lassen sich Aspekte dieser Funktionsweise (nicht nur ihrer Motive) in heutigen Erscheinungsformen des Antisemitismus wiederfinden. Ebenso zeigen sich entsprechende Strukturen in philosophischen und politisch-theoretischen Denkformen, die für antisemitische Implikationen anfällig sind – darunter auch Denkfiguren, die an anderer Stelle meine eigene systematisch-theologische Arbeit prägen: etwa bei Heidegger, Hegel, Badiou, Žižek, Agamben und Mbembe.
Lehre
Vorlesung: Antisemitismus als Denkform? Eine Spurensuche im Denken der Moderne und Gegenwart [020125]
Hauptseminar (Systematische Theologie): Woher kommt der Judenhass – philosophische Antworten auf den Anschlag der Hamas [028152]
Proseminar (Systematische Theologie): Antisemitismus als „negative Leitidee der Moderne“ – auch in Philosophie und Theologie? [024175]