Konifere mit Regentropfen
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Nachruf auf

Dieter Henrich

(1927-2022)

Ehrendoktor der Katholisch-Theologischen Fakultät

der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Der große Philosoph Dieter Henrich ist gestorben. Man darf ihn so nennen, auch wenn andere über ihn und sogar er selbst über sich gesagt hat, dass er keine eigene systematische Philosophie entwickelt habe. Doch in den unzähligen philosophiegeschichtlichen Detailstudien, in den Argumentanalysen zentraler Passagen aus den Werken Kants und Hegels, in der Erschließung der „ursprünglichen Einsichten“ Fichtes und Hölderlins und nicht zuletzt in den dezidiert systematischen Skizzen, die eben doch hunderte von Seiten ausmachen, hat er bewiesen, dass er ein Großer seines Faches war. Er hat unzähligen Menschen etwas mitgegeben: für die hochspezialisierte philosophische Forschung ebenso wie für die Deutung des eigenen Lebens.

Eigenschaften, die traditionell dem Genie zugeschrieben werden, nämlich Originalität und Exemplarität, treffen auf Dieter Henrich ohne Zweifel zu. Es war originell, nach Jahrzehnten der Verschüttung in der analytischen wie kontinentalen Philosophie die Frage des Selbstbewusstseins in den Mittelpunkt des Nachdenkens zu rücken und darauf im Lauf der Jahrzehnte eine Metaphysik der Subjektivität zu gründen. Es war originell, Hölderlin als Philosophen zu entdecken, der eine entscheidende Rolle in den frühidealistisch-frühromantischen Diskursen nach Kant gespielt hat und dessen Einsichten über die Brüchigkeit des Lebens zugleich die Vergegenwärtigung in unsere Zeit lohnen. Es war originell, die Methode der Konstellationsforschung zu entwickeln, um die explosive Dynamik des Philosophierens in der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts wirklich nachvollziehen zu können. Und all dies wurde exemplarisch und stilbildend, man denke nur an die „Heidelberger Schule“ der Subjektphilosophie und an die weitverzweigten Studien im Sinne der Konstellationsforschung, die inzwischen auch auf andere Epochen Anwendung findet.

Dieter Henrich hat all das geleistet. Er war sich seiner Begabung und seiner Erfolge durchaus bewusst. Und doch war seine Philosophie gerade nicht darauf ausgerichtet, das Hochfliegende der menschlichen Subjektivität zu bejubeln. Vielmehr waren es sein Gespür für die und sein Respekt vor der Besonderheit, aber auch Endlichkeit, die wir als verkörperte Subjekte in dieser Welt Tag für Tag erfahren, die seiner Philosophie den unnachahmlichen Klang und den faszinierenden Inhalt verliehen haben. Seine Lehre vom „bewussten Leben“, das es zu führen gilt, vom „Grund im Bewusstsein“, dem wir endliche Subjekte uns verdankt wissen, und von der „All-Einheit“, in der wir uns als solche Subjekte denkend wiederfinden, bietet nach wie vor Orientierung. Zugleich würdigt sie die Option des Materialismus ebenso wie die nihilistische Erfahrung, darf also nicht als Heilslehre missverstanden werden, die die Augen vor der Wirklichkeit verschlösse.

Ein bemerkenswerter Zug in Henrichs Philosophieren war seine Offenheit für Themen, die sich mit denen der Religionen überschneiden. Seine Denkform war nicht-theistisch, so dass Henrich gegenüber buddhistischen Lehren und Praktiken aufgeschlossen war. Wie jedoch jüngere Publikationen unterstrichen haben, fühlte er sich ein Leben lang immer wieder auch von den Texten der Bibel angesprochen. Seine Gedanken zur Dankbarkeit – auch zur Danksagungsfeier des Abendmahls –, zur Affirmation der eigenen Endlichkeit im Angesicht des Todes, zum Segnen sowie zuletzt zur Liebe, in der keine Furcht ist, dürfen als einmalig in der zeitgenössischen Philosophie gelten. Dabei wäre die Beschreibung unzutreffend, Henrich habe diese Wörter und Begriffe aus der Sphäre der Religion in die der Philosophie schlichtweg „übersetzen“ wollen. Vielmehr war es ihm darum zu tun, die Tiefe und den Grund freizulegen, die einer religiösen ebenso wie einer säkularen Deutung noch vorausliegen.

Am 18. November 1999 hat die Katholisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Dieter Henrich die Ehrendoktorwürde verliehen. Sie ehrte damit seine herausragende philosophische Leistung sowie die Impulse, die von ihr für eine Theologie ausgehen, die unter den Bedingungen der Gegenwart sprachfähig und zum Geben guter Gründe bereit sein will. Es schlossen sich fruchtbare Jahrzehnte an, in denen das wechselseitige Versprechen, das in der Verleihung wie der Annahme einer Ehrenpromotion liegt, auf vielfältige Weise eingelöst wurde. Dieter Henrich suchte immer wieder den theologisch informierten Austausch insbesondere über eine tragfähige Theorie des Absoluten, und Münster wurde zu einem wichtigen Ort für die Rezeption seines Denkens im Kontext der katholischen Theologie. Die Fakultät wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Dieter Henrich antwortete damals auf die Ehrenpromotion mit einem Vortrag über Subjektivität und Freiheit, in der er über Hölderlins Ode „Lebenslauf“ nachsann. Die dem Menschen eigene „Freiheit, aufzubrechen, wohin er will“, die dort besungen wird, bleibt eine endliche, weil ihre Kehrseite die vielen Wege sind, die man nicht eingeschlagen hat. Gerade so aber, als endliche, kann sie „danken für Alles“ lernen. Für Dieter Henrich war immer wichtig, dass dies auch für den letzten Aufbruch eines Menschen gilt.

Prof. Dr. Thomas Hanke                                                                                                                                                                       

Lehrstuhlvertreter am Seminar für Philosophische Grundfragen der Theologie 
Katholisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Pressemitteilungen, Würdigungen und weiterführende Links

"Zum Tod von Dieter Henrich" in FAZ, 18. Dezember 2022

"Bürgerlicher Philosoph": Zum Tod von Dieter Henrich in BR, 19. Dezember 2022

"Die Liebe macht uns zu dem, was wir sein können" in NZZ, 19. Dezember 2022

Website Dieter Henrich, LMU