Call for Papers 2023 - Zeit der Transformation, Zeit des Stillstands?

Dem Nachhaltigkeitsdiskurs sind vielfältige Elemente inhärent, die im Spannungsfeld von Gegenwartdiagnose und Zukunftsschau eine ähnliche Struktur aufweisen wie soziologische Zeitdiagnosen. Fragen nach Nachhaltigkeit und einer sozial-ökologischen Transformation richten den Blick auf große Zeiträume, die Analyse jener Prozesse, die zum krisenhaften Status Quo beigetragen haben sowie mögliche Zukunftsszenarien und Handlungsstrategien, die spezifische (nicht-)nachhaltige Zukünfte verhindern oder erreichbar machen sollen. Die Zeitdiagnosen des Umwelt- und Nachhaltigkeitsdiskurses zum Status Quo der Bearbeitung der sozial-ökologischen Krise eröffnen dabei einen ambivalenten Blick auf die Gegenwart und mögliche zukünftige Entwicklungen.

Auf der einen Seite lassen sich die letzten Jahrzehnte als Beginn einer sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft beschreiben. Umwelt- und Klimaschutz sowie Nachhaltigkeit etablieren sich als gesellschaftliche Normen. Umfragen verweisen darauf, dass die Bekämpfung von Umweltproblemen eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung erfährt (aktuell z.B. Grothmann et al 2023). In Wirtschaft und Wissenschaft werden innovative Technologien zur Transformation des Energiesystems der Gesellschaft entwickelt und organisatorische Prozesse mit Blick auf das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung respezifiziert. Nachhaltigkeits- und KIima-Bewegungen erproben vielfältige Formen nachhaltiger Praktiken und politischer Mobilisierung, um Druck auf politische Akteure auszuüben. Auch staatliche Akteure beschließen weitreichende Nachhaltigkeitsziele und legen milliardenschwere Transformationsprogramme auf, die eine grüne Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft weiter fördern sollen, zuletzt etwa den European Green Deal oder den US-amerikanische Inflation Reduction Act.

Auf der anderen Seite wird das 21. Jahrhundert im Umwelt- und Nachhaltigkeitsdiskurs als eine Art „Endspiel“ der Menschheit in Szene gesetzt, in dessen Rahmen sich kaum vorstellbare Katastrophen ereignen werden, wenn es nicht gelingt, das gesellschaftliche Naturverhältnis im Sinne der Nachhaltigkeit neu zu ordnen. Berichte wie die aktuellen Assessment Reports des IPCC verweisen auf weiterhin steigende Treibhausgas-Emissionen, die unzureichende Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen und bereits zu beobachtende negative Folgen für Ökosphäre und Gesellschaft. Auch die Zwischenbilanz der UN bezüglich der Umsetzungen der Sustainable Development Goals (UN 2023) dokumentiert trotz aller Bemühungen einen weitgehenden Stillstand und sogar Rückschritte in Bezug auf die Bewältigung vieler Dimensionen der sozial-ökologischen Krise (etwa bei der Bekämpfung des Klimawandels, des Rückgangs der Artenvielfalt, der Armut und gewalttätiger Konflikte). Grafiken zu den planetaren Belastungsgrenzen färben sich zunehmend rot (Richardson et al. 2023) und es wird von vielen Seiten vor sich schließenden Möglichkeitsfenstern gewarnt.

Die soziologische Zeitdiagnostik reagiert auf Umwelt- und Nachhaltigkeitsdiskurse und die Debatte um das Anthropozän unter anderem mit der Diagnose einer Stabilisierung der Politik der Nicht-Nachhaltigkeit (Blühdorn 2020) oder eines sich durchsetzenden Regimes der Anpassung (Staab 2022). Einerseits scheint in soziologischen Diagnosen die Hoffnung auf die transformative Kraft emanzipatorischer Katastrophen auf (Beck 2017), andererseits fordern sie aber auch Kollaps-Szenarien im Rahmen einer Kollapsologie zu imaginieren (Adloff 2022). Sie erinnern ferner an nicht-intendierte Nebenfolgen von Nachhaltigkeitstransformationen sowie Eigenlogiken sozialer Systeme, die sich intentionalen Steuerungsversuchen weitgehend entziehen (klassisch bereits Luhmann 2008). Vermeintliche Pfade der ökologischen Modernisierung und technische Lösungen drohen genau jene sozialen Strukturen und Prozesse zu stabilisieren, die ursächlich mit der Krise verknüpft sind – z.B. Kapitalismus, Extraktivismus oder asymmetrische globale Machtbeziehungen (Lessenich 2018). Vorstellungen einer nachhaltigen Gesellschaft, die jenseits von Kapitalismus und Industrialismus Lösungen der sozial-ökologischen Krise finden, scheinen ob mangelnder politischer Mehrheitsfähigkeit auch für die soziologische Zeitdiagnostik geradezu aus der Zeit gefallen zu sein.

Der aktuelle Call for Papers der SuN fragt vor dem Hintergrund dieser zeitdiagnostischen Reaktionen auf den Nachhaltigkeitsdiskurs:

  • In welchem Verhältnis stehen soziologische Zeitdiagnosen und Gesellschaftstheorien zu den im Umwelt- und Nachhaltigkeitsdiskurs zirkulierenden Krisendiagnosen? Inwiefern integrieren sie diese in ihre Deutungsmuster? Inwiefern treten sie ihnen gegenüber in Opposition?
  • Welche soziologischen Zeitdiagnosen und Gesellschaftstheorien können aktuell einen besonderen Erklärungswert für die sozial-ökologische Krise beanspruchen? Was spricht für ein gelingen sozial-ökologischer Transformationsprozesse, was für die Kontinuität einer Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit?
  • Was lässt sich aus der soziologischen Forschung zu Nachhaltigkeit, sozial-ökologischer Transformation, Klimawandel, Umwelt und Natur über die Dynamiken und Steuerungslogiken sozial-ökologischer Transformationen lernen? Was sind die wesentlichen Beharrungskräfte, die einer nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung im Wege stehen? Inwiefern lassen sich umgekehrt Bedingungen, Treiber, Strategien und Instrumente identifizieren, die erfolgsversprechende Transformationen ermöglichen? Welche Rolle spielen hierbei gesellschaftliche Zeit-, Eigentums-, Herrschafts- und Machtverhältnisse?
  • Welche Implikationen haben die Ergebnisse der soziologischen Nachhaltigkeitsforschung für die Praxis sozial-ökologischer Transformation? Welche möglicherweise konkurrierenden Vorstellungen einer gelingenden sozial-ökologischen Transformation (Transformationstheorien) lassen sich identifizieren? Welche Stärken und Schwächen sind ihnen jeweils eingeschrieben? Sollte soziologische Nachhaltigkeitsforschung überhaupt den Anspruch haben, einen praktischen Beitrag zur Krisenbewältigung zu leisten?

Interessierte Autor*innen sind herzlich eingeladen, bis zum 15. Februar 2024 einen Abstract von maximal 500 Wörtern per E-Mail an sun.redaktion@uni-muenster.de einzureichen. Sowohl deutsch- als auch englischsprachige Beiträge sind willkommen. Es sind sowohl Vorschläge für Journalbeiträge (double-blind Peer-Review) als auch Vorschläge für Essays und Forschungsnotizen (Editorial Review) erwünscht.

Die SuN ist eine Online-Zeitschrift mit Peer-Review-Verfahren, deren Ziel es ist, sozialwissenschaftliche Perspektiven in der Nachhaltigkeitsforschung zu bündeln und zu fördern. Alle Beiträge der SuN erscheinen im Diamond Open Access (Freier Zugriff, keine Autor*innen-Gebühren) unter der Creative Commons Lizenz CC - BY 4.0. Neben Beiträgen mit Bezug zum Call for Papers können auch freie Beiträge zu soziologischen Nachhaltigkeitsthemen eingereicht werden.

Literatur

Adloff, Frank (2022): Gesellschaftlicher Kollaps und Kollapsologie. In: Ibrahim, Youssef; Rödder, Simone (Hrsg.): Schlüsselwerke der sozialwissenschaftlichen Klimaforschung. Bielefeld: transcript, S. 339-347.

Beck, Ulrich (2017): Die Metamorphose der Welt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Blühdorn, Ingolfur (2020): Die Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit. Skizze einer umweltsoziologischen Gegenwartsdiagnose. In: Blühdorn, Ingolfur; Butzlaff, Felix; Deflorian, Michael; Hausknost, Daniel; Mock, Miriam (Hrsg.): Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet. Bielefeld: transcript, S. 65–142.

Grothmann, Torsten; Frick, Vivian; Harnisch, Richard; Münsch, Marlene;  Kettner, Sara Elisa; Thorun; Christian (2023): Umweltbewusstsein in Deutschland 2022. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/umweltbewusstsein-in-deutschland-2022

Luhmann, Niklas (2008): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Lessenich, Stephan (2018): Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin: Hanser Verlag.

Richardson, Katherine et al. (2023): Earth beyond six of nine planetary boundaries. DOI: 10.1126/sciadv.adh2458 

Staab, Philipp (2022): Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

UN (2023): Times of crisis, times of change: Science for accelerating transformations to sustainable development. https://sdgs.un.org/sites/default/files/2023-09/FINAL%20GSDR%202023-Digital%20-110923_1.pdf

Den CfP können sie hier als PDF herunterladen.