Hostile Terrain 94: ​Mit „toe tags“ gegen das „Spektakel der Statistik“

© Mark Stein, Hostile Terrain 94 Münster

Seit 2000 haben mehr als sechs Millionen Menschen versucht, die US-Mexikanische Grenze durch die Sonora-Wüste zu überqueren.

Mindestens 3.200 von ihnen sind auf ihrer Reise verstorben. Sie werden von der Grenzpolizei oder Bewohner*innen der Borderlands in dem riesigen und menschenfeindlichen Terrain der Wüste gefunden und von Gerichtsmediziner*innen klinisch in Datenbanken erfasst. Von Familie und Freunden werden sie schmerzlich vermisst und betrauert. Doch für die meisten von uns sind diese Toten unsichtbar, auf eine Weise sogar nicht existent, denn ihre Leben werden im öffentlichen Diskurs als „unbetrauerbar“ dargestellt. Das Sterben, das in der Wüste geschieht, geschieht schließlich nicht nur mit stillem Einvernehmen der US-Regierung, sondern als direkte Folge ihrer Grenzpolitik. „Hostile Terrain 94“ widersetzt sich dieser folgenschweren Abwesenheit jeglichen menschlichen Anstands in der Grenzpolitik und der Art und Weise, wie die tödlichen Folgen von Grenzsicherungsstrategien als „gerechte“ Strafe für illegal Migrierende hingenommen werden. Das Herz des HT94-Projekts machen Freiwillige aus, die per Hand 3.200 „toe tags“ mit den Daten der 3.200 Individuen, die zwischen 2000 und 2020 an der Grenze verstorben sind, beschriften. Das Ausfüllen der „toe tags“ mit den Details eines jeden Opfers ist eine herausfordernde Aufgabe, mit der sie geehrt und gedacht werden sollen, obwohl sie uns unbekannt sind. Die handbeschrifteten Zettel werden anschließend auf eine Wandkarte gepinnt, genau an dem Punkt, der auf den geographischen Fundort der Überreste eines jeden Grenzüberschreitenden verweist.

Wenn es um Flucht und Migration geht, dann stehen oft Zahlen im Vordergrund. Die „dramatisch steigende“ Zahl an Menschen, die gerade unterwegs sind, die Zahl an Menschen, die erwartet werden, die Zahl an Menschen, die aufgenommen oder zurückgeschickt werden müssen. Die Fokussierung auf Zahlen, mit denen Flucht und Migration beschrieben werden, hat mit dem sogenannten „Spektakel der Statistik“[1] zu tun, dem sich viele Medien und politische Narrative bedienen. Das „Spektakel der Statistik“ trägt dazu bei, dass illegalisierte Migration als eine Krise und illegalisierte Migrierende als Bedrohung begriffen werden. Als Zahlen gedacht können migrierende Menschen entmenschlichend als eine „Masse“ und „Strom“ dargestellt werden, die es abzuwehren und zu regulieren gilt – das ist eine Darstellung von Migration, die in krassem Kontrast dazu steht, wie die USA ihren völkermörderischen Siedlerkolonialismus idealisiert. Hinter dem „Spektakel der Statistik“ treten nicht nur individuelle Schicksale zurück, sondern auch die politischen Unruhen und ökonomischen Problemen, die die Menschen zur Flucht veranlassten. Die Gründe für die Flucht in die USA hängen unlösbar mit der interventionistischen US-Außenpolitik in Zentral- und Südamerika seit den 1960er Jahren zusammen, welche von einer kompletten Missachtung für demokratische Strukturen und Menschenrechte geprägt ist. Der Fokus auf Nummern erlaubt es den USA, sich von ihrer historischen Verantwortlichkeit für die Gründe von Migration aus Lateinamerika abzuwenden, weil es im „Spektakel der Statistik“ nur um die Abwehr der „Krise“ vor der eigenen Haustür geht, und nicht um die Lösung der Probleme, die Menschen zur Flucht veranlassen.

Das Undocumented Migration Project (UMP) greift für „Hostile Terrain 94“ auf Daten von Humane Borders, einem gemeinnützigen Unternehmen, und dem Pima County Medical Examiner’s Office in Arizona zurück. Aus den Daten hat Humane Borders Migrant Death Maps erstellt: Karten, die mit roten Punkten versehen sind, welche die Fundorte von verstorbenen Migrierenden anzeigen und weitere Informationen zu der jeweils gestorbenen Person beinhalten. Jason de León, Direktor des UMP, sah für HT94 aber die Notwendigkeit, die Daten visuell anders aufzubereiten. Sein Ziel ist es, mit dem Projekt die Daten auf eine Art und Weise zu visualisieren, sodass wir die Menschen hinter diesen Zahlen zu sehen beginnen. Deswegen übertragen Freiwillige die Daten auf „toe tags“.

© Undocumented Migration Project

Das Beschriften der „toe tags“ per Hand übersetzt die klinischen Daten, mit denen die Verstorbenen in Datenbanken erfasst sind, in einen gemeinschaftsorientier-ten Akt des „Gegen-Gedenkens“, eines Gedenkens also, das sich der offiziellen „Unbetrauerbarkeit“ von illegalisierten Migrant:innen widersetzt. Laut Judith Butler ist „Betrauerbarkeit die Kondition der Entstehung und Versorgung eines Lebens“ [2]. Ein betrauerbares Leben ist eines, das lebenswert ist, weil es als wertvoll gesehen wird und somit Anspruch hat auf und gehalten wird von Systemen der Unterstützung und der Anerkennung. Sobald dieses Leben gelebt wurde und ein Ende findet, kann es betrauert werden als ein verlorenes Leben. Unbetrauerbare Leben sind hingegen Leben „die niemals gelebt worden sein werden“, weil sie als der Anerkennung und Unterstützung unwürdig betrachtet werden, die ein Leben erst lebbar machen. Das bedeutet, dass ein „unbetrauerbares Leben eines ist, welches nicht betrauert werden kann, weil es nie gelebt hat, das heißt, es hat überhaupt nie als Leben gezählt“. Die Leben von Migrierenden sind oft solche unbetrauerbaren Leben: sie sind weniger wertgeschätzt, sie werden als weniger würdig, Unterstützung und Schutz zu erfahren, betrachtet, sie sind weniger lebbar. Das „Spektakel der Statistik“ ist eine Reflektion dessen. „Toe tags“ von Freiwilligen ausfüllen zu lassen macht es nicht wieder gut, dass diesen Menschen systematisch Schutz, Anerkennung und Unterstützung verweigert wird, während sie am Leben sind. Doch es ist eine Praxis des Gedenkens, die der „differentiellen Verteilung öffentlicher Trauer“ entgegenwirkt, welche bestimmt, wer als ein Individuum mit Rechten und als betrauerbares Leben angesehen wird.

Durch HT94 wird jedes der 3.200 Leben der Grenzüberschreitenden von über 100 Freiwilligen in den über 100 Gastgeber-Locations betrachtet, ihre Details werden über 100 Mal niedergeschrieben, ihre „toe tags“ von über 100 Händen gehalten, bevor sie öffentlich ausgestellt werden, damit auch andere sie sehen können. Dadurch soll den Verstorben das im Tod zurückzugeben, was ihnen in ihrem Leben als illegalisierte Migrierende genommen wurde: Anerkennung, Wertschätzung, Beachtung, und die Ahnung einer Identität soweit wie möglich. Wie Jason de León erklärt: „Ich wollte den Verstorbenen Namen geben. Das ist ein Akt der Zeugenschaft. Die Daten kommen von einer Microsoft-Datenbank. Wir bitten die Freiwilligen darum, den Daten Leben einzuhauchen, indem sie die Details aufschreiben. Das war der naheliegendste Weg, der uns eingefallen ist, um jemanden die Kosten an Menschenleben spüren zu lassen“ [3].

Diese Kosten von Anti-Immigrationspolicen, maskiert als „Grenzsicher-heitsmaßnahmen“, werden besonders deutlich an den „toe tags“ erkennbar. Diese dokumentieren, wie wenig von den als unbetrauerbar geltenden Leben illegalisierter Migrierender in der Bürokratie des Staats-Apparats übrigbleibt.

Orange toe tags represent unidentified individuals.
© Undocumented Migration Project

„Toe tags“ sind in der Pathologie eingesetzte Zettel, die an den großen Zeh einer verstorbenen Person befestigt werden und zu ihrer Identifizierung dienen. Auf den HT94 „toe tags“ werden unter anderem Name, Alter, Geschlecht, Fundort, Todesursache und Zustand des Körpers eingetragen. Die beige-farbenen toe tags stehen dabei für Menschen, deren Namen wir kennen. Die orange-farbenen Zettel für Menschen, die nicht identifiziert werden konnten und deren ungewisses Schicksal eine Katastrophe für die Familie und Freund:innen darstellt, welche sie zurücklassen mussten. Dieser Mangel an Informationen, die zur Identifizierung vermisster Verwandter oder sterblicher Überreste in der Wüste genutzt werden können, ist kein Zufall, sondern eine direkte Konsequenz der US-Grenzpolitik: Viele Migrierende tragen keine Dokumente mit sich, damit sie sich nicht ausweisen müssen, wenn sie von der Grenzpolizei aufgegriffen werden. Außerdem zersetzen sich Körper in der Wüste schnell, sodass Familienangehörige kaum Chance haben, ihre Vermissten selbst zu identifizieren. „Toe tags“ geben unter Umständen also nur ein Minimum an Informationen über eine Person preis, manchmal allein den Fundort oder das Datum, an dem sie gefunden wurde.

Doch trotzdem investieren Freiwillige überall auf der Welt Zeit und Arbeit, um die Zettel mit allen verfügbaren Informationen auszufüllen. Jeder ausgefüllte „toe tag“ steht dafür, dass verstorbene Migrierende mehr sind als eine Zahl. Beigefarbene tags lassen manchmal die Personen erahnen, die sie repräsentieren, wenn Name und Alter ein Gesicht und eine mögliche Geschichte heraufbeschwören. Orangefarbene „tags“ erinnern uns daran, dass die Wüste ein menschenfeindliches Gelände ist, das von einem Körper schon nach kurzer Zeit nichts mehr übrigbleiben lässt, was ihn identifizierbar machen könnte. Hinter jedem „toe tag“ steht die Bemühung, nicht am „Spektakel der Statistik“ teilzunehmen, sondern darauf aufmerksam zu machen, in welch außerordentlicher Prekarität sich illegalisierte Migrierende zu Lebzeiten finden, und auf die Gewalt der „distributiven Trauer“, durch die ihnen auch nach ihrem Tod jegliche Anerkennung und Sichtbarkeit verweigert wird.

[1] De Genova, Nicholas, Heller, Charles, and Maurice Stierl. “Numbers (or, The Spectacle of Statistics in the Production of ‘Crisis’)”. http://nearfuturesonline.org/europecrisis-new-keywords-of-crisis-in-and-of-europe-part-4/
[2] Butler, Judith. “Precariousness and Grievability—When Is Life Grievable?”. Verso, https://www.versobooks.com/blogs/2339-judith-butler-precariousness-and-grievability-when-is-life-grievable.
[3] Aviles, Mary. “Data Visualization as an Act of Witnessing”. Nightingale. The Journal of the Data Visualization Society, 4 March 2020, https://medium.com/nightingale/data-visualization-as-an-act-of-witnessing-33e346f5e437