​Die Hostile Terrain 94 Karte: Grenzen sind mehr als Linien auf einer Karte

© Mark Stein, Hostile Terrain 94 Münster

Die Hostile Terrain 94-Installation zeigt eine Wandkarte der Grenze, wie sie durch die Sonora-Wüste Arizonas verläuft.

Diese Karte hat so gut wie keine Ähnlichkeit zu den Karten, die wir in Schulatlanten finden oder in Medien genutzt werden. So verwendet diese Karte zum Beispiel keine Farben, um damit die Oberflächenbeschaffenheit der Wüste zu repräsentieren: Blau für Gewässer oder eine Braunschattierung für Flächenerhebungen. Was uns die HT94-Karte zeigt ist leerer Raum, durch den eine dicke schwarze Linie verläuft: die Grenze. Unten rechts befindet sich eine Skala, die uns den Maßstab der Linie zu ihrem materiellen und realen Gegenpart verdeutlicht. Schwarze Punkte auf der leeren Fläche zeigen zwei der größeren Städte Arizonas an. Mit diesem Minimum an Hinweisen zur geographischen Lokalisierung stellt sich die Frage, was die Karte denn eigentlich versucht zu „tun“, wenn sie ja offensichtlich nicht darauf abzielt, die Erdoberflächenbeschaffenheit detailliert zu repräsentieren oder Orientierung zu ermöglichen. Als eine „Gegen-Karte“ möchte die HT94-Karte das zeigen, was konventionelle Karten für gewöhnlich unsichtbar machen, und dadurch diesen Menschen gedenken, deren Leben in der Wüste ausgelöscht wird.

Konventionelle geographische Karten, wie die Karten im Schulatlas, erwecken den Eindruck, dass sie die Realität abbilden, die Welt zeigen, wie sie ist. Wir nehmen an, dass Landkarten, mit ihren detaillierten und farbigen Geländerepräsentationen, objektive und neutrale Darstellungen unserer Umgebung sind. Doch Kartographie, die Wissenschaft und Technik der Darstellung raumbezogener Informationen, ist seit jeher eng verknüpft mit politischen Agenden und dem Streben nach geo-politischer Macht.

Grundgedanke der Kritischen Kartographie ist, dass Karten die Welt, in der wir leben, nicht nur darstellen, sondern dazu beitragen, sie überhaupt erst zu schaffen.

Kartographie war beispielsweise in den Händen von Kolonialisten ein Instrument, um die Kontrolle über fremdes Territorium und dessen Menschen zu erlangen. Wie Ila Sheren schreibt: „Ab dem 15. Jahrhundert waren Karten unlösbar mit Imperialismus und Kriegsführung verbunden. Ursprünglich stellte bereits der Akt des Kartierens eines neu ‘entdeckten’ Territoriums Grund genug dar, dieses für sich zu beanspruchen“[1]. Auch bei der Formierung von Nationalstaaten spielten Karten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie erlaubten schließlich, die Welt nun so darzustellen, wie der aufblühende Nationalismus sie sehen wollte: eine Welt, die aus vielen, klar voneinander abgegrenzten Nationalstaats-„Containern“ besteht. Dort, wo vorher vielleicht nur eine informelle Grenze verlief, zeigte die Nationalstaatskarte nun eine dicke schwarze Linie auf Papier und machte die Trennung zwischen Staaten und zwischen „uns hier“ und „denen da drüben“ offiziell. ​

Karten schaffen also oftmals eine hegemoniale Sicht auf die Welt, womit eine auf die Vorherrschaft einer Macht fokussierte Sicht gemeint ist. Kritische Kartograph*innen, darunter Forscher*innen, aber auch Aktivist:innen und Künstler*innen, begannen in den 1990er Jahren, dieser Tatsache mit dem sogenannten „counter-mapping“, also „Gegen-Kartieren“, zu begegnen. Mit dieser kritischen Praxis wollen sie das abbilden, was hegemoniale Karten außen vor lassen. Das kollektiv orangotangto+ hat einen alternativen Atlas erschaffen, in dem es nur „Gegen-Karten“ gibt: Karten von Flüchtlingsrouten durch das Mittelmeer oder eines libanesischen Flüchtlingslagers, von dem Problem leerstehender Gebäude in New York, von Interessenskonflikten zwischen den unterschiedlichen Parteien bei einem Straßenprotest. Das Kollektiv schreibt: „Wir müssen Gegen-Karten produzieren, […] um die Art und Weise zu ändern, wie wir die Welt betrachten und um neue Dialoge und Entdeckungen zu schaffen“[2]. Gegen-Karten sollen nicht das Endprodukt einer kritischen Kartographie sein, sondern vielmehr Mittel zum Zweck. Sie können als Ausdruck des Auflehnens gegen Autoritäten verstanden werden, die mit ihren Karten Kontrolle über Raum und die Menschen darin ausüben, und erschaffen einen Anlass, um die Welt kritischer zu sehen und auf die „Leerstellen“ abzusuchen, die hegemoniale Karten vorsehen.

© Undocumented Migration Project

Wie steht es um die Karte der Hostile Terrain 94 Installation?

Einerseits zeigt sie die Grenze als dicke schwarze Linie hegemonialer Nationalstaatskarten und bildet somit eine Weltanschauung ab, die an Grenzziehungen festhält. Eine Weltanschauung also, in denen Menschen oftmals als „illegal“ eingestuft werden, weil sie nicht die offizielle Berechtigung haben, bestimmte Grenzen zu überqueren. Andererseits zeigt die HT94-Karte etwas, was in hegemonialen Karten fehlt und somit in unserer Alltagsrealität oft unsichtbar gemacht wird: Menschen, die an Grenzen versterben. Wenn die Hostile Terrain 94-Ausstellung beginnt und erste Besucher:innen den Weg in den Innenhof des Bibelmuseums finden, wird die große Wandkarte der Installation noch leer sein. Hostile Terrain 94 ist ein Kunstwerk im Entstehen, das auf dem Kartieren als Praxis des Gedenkens beruht. Erst nach und nach kommen mehr "toe tags" hinzu, die langsam die große Leere auf der Karte füllen. Die anfängliche Leere der Karte spiegelt die Unsichtbarkeit wider, die viele Schicksale von Flüchtenden und Migrierenden prägt. Die "toe tags", die auf die Karte montiert werden, dienen dazu, diese Schicksale sichtbarer zu machen.

Wenn wir vor der vollendeten Karte stehen, dann sehen wir unter den Tausenden an „toe tags“ kaum noch die dicke schwarze Grenzlinie.

© Undocumented Migration Project

​Wir sehen, wie sich „toe tag“ über „toe tag“ über „toe tag“ stapelt. An den Orten in der Wüste, an denen viele migrierende Personen starben, heben sich die übereinander gelagerten „toe tags“ besonders stark von der Karte ab. An manchen Stellen hängen nur vereinzelte „toe tags“. Die 3.200 „toe tags“ ergeben zusammengenommen ein Relief, eine Abbildung von verstorbenen Menschen, die der geographischen Kartendarstellung von Geländen auf der Erdoberfläche ähnelt. Doch anstelle von Gebirgen und Tälern zeigt die HT94-Karte ein Gelände, das von Grenz-Todesfällen gebildet wird. Als „Gegen-Karte“ soll die Installation diese Todesfälle sichtbar machen und uns anregen, Migration über Grenzen hinweg anders zu sehen: Nicht als „Flüchtlingswelle“, die droht, Grenzen zu überrollen, oder als entmenschlichte „Masse“ an Flüchtlingen, die in das Land eindringen. Die HT94-Karte zeigt, dass für viele migrierende Menschen die Grenze kein einfacher Eintritt in ein neues und hoffentlich besseres Leben ist, sondern ein totes Ende – im wahrsten Sinne des Wortes. Verantwortlich dafür ist nicht die Grenze an sich. Grenztodesfälle sind die Folge menschenfeindlicher Grenzpolitiken wie die Strategie „Prevention through Deterrence“ an der US-Mexikanischen Grenze. Ziel der HT94-Installation ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass Grenzen nicht so unschuldig sind, wie sie auf Karten scheinen, sondern, dass sie mit einer Weltsicht einhergehen, in der es akzeptiert wird, wenn Menschen an Grenzen sterben.

[1] Sheren, Ila Nicole. Portable Borders: Performance Art and Politics on the U.S. Frontera since 1984. University of Texas Press, 2015. S. 78.

[2] kollektiv orangotango+, Hrsg. This Is Not an Atlas: A Global Collection of Counter-Cartographies. 1. Aufl.. Transcript, 2018. Sozial- und Kulturgeographie, Bd. 26. S. 30.