Religiöse Rechtfertigung?

Die Beschneidungen von Knaben zwischen Strafrecht, Religionsfreiheit und elterlichem Sorgerecht

Ansichtssache Fateh Moghadam

Dr. Bijan Fateh-Moghadam

© Julia Holtkötter

Eltern, die ihre minderjährigen Söhne gemäß jüdischer und muslimischer Tradition beschneiden lassen, machen sich nicht strafbar. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Münsteraner Strafrechtswissenschaftlers Dr. Bijan Fateh-Moghadam. Für besorgte Eltern und Ärzte, die die medizinisch nicht zwingend notwendigen Beschneidungen durchführen, könne Entwarnung gegeben werden, schreibt der Jurist in einem Beitrag für die Homepage www.religion-und-politik.de des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Das gelte allerdings nicht für Genitalverstümmelungen von Mädchen, die strafrechtlich anders zu bewerten seien.

Anfuehrungszeichen

Der Beitrag:

Machen sich Eltern, die ihre minderjährigen Söhne gemäß jüdischer und muslimischer Tradition beschneiden lassen, strafbar? In der deutschen Strafrechtswissenschaft wird die Frage der Strafbarkeit der Beschneidung (medizinisch: Zirkumzision) von männlichen Minderjährigen kontrovers diskutiert. Einige neuere Publikationen vertreten mit Nachdruck die These, jede kurativ-medizinisch nicht zwingend notwendige Beschneidung bei männlichen Minderjährigen stelle eine strafbare Körperverletzung dar. Träfe dies zu, hätte dies unter anderem die brisante Konsequenz, dass jüdische und muslimische Eltern, die ihre minderjährigen Söhne traditionell beschneiden lassen sowie Ärzte und sonstige Beschneidungspersonen, die solche Eingriffe durchführen, mit Strafverfolgung zu rechnen hätten. Darüber hinaus müssten die Familiengerichte präventive Maßnahmen bis hin zur Trennung des Kindes von ihren Eltern erwägen, um eine Verletzung des Kindeswohls zu vermeiden (§ 1666 BGB). Insoweit nimmt es nicht wunder, dass der akademische Vorstoß in den jüdischen und muslimischen Gemeinden ebenso für Verunsicherung gesorgt hat wie bei Kinderärzten und pädiatrischen Abteilungen in deutschen Krankenhäusern. In akademischen wie nicht-akademischen Gegenreaktionen wird zur Verteidigung traditionell beziehungsweise religiös motivierter Zirkumzisionen sodann zumeist unmittelbar die Religionsfreiheit ins Feld geführt. Die Diskussion scheint um die Frage zu kreisen, ob die Beschneidung von Knaben durch einen religiösen oder kulturellen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt werden kann. Eine solche Kulturalisierung der Problemstellung suggeriert einen ebenso simplen wie falschen Dualismus: hier die Verfechter eines archaischen islamischen und jüdischen Rituals, dort die modernen Aufklärer, die die universellen Menschen- und Kinderrechte verteidigen. Die Diskussion ist dadurch in eine Schieflage geraten, die ihrem Gegenstand weder in empirischer noch in juristisch-normativer Hinsicht gerecht wird.

Die Beschneidung von Knaben als mehrdeutige soziale Praxis

Die Religionsfreiheit als Ausgangspunkt der normativen Bewertung der Beschneidung von Knaben verfehlt bereits deren gesellschaftliche Wirklichkeit. Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht in ihrer jüdischen und muslimischen religiösen Dimension. Die Beschneidung von Knaben gilt als häufigste Operation im Kindesalter. Nach den Angaben von UNAIDS (Joint United Nations Programme on HIV/AIDS), einem gemeinsamen Projekt der Weltgesundheitsorganisation und der Vereinten Nationen, sind weltweit ca. 33% aller Männer über 15 Jahre beschnitten. Neben religiösen Motiven bilden die Familientradition, ästhetisch-kulturelle Erwägungen sowie hygienische und präventiv-medizinische Vorteile wichtige Determinanten für die Beschneidung. So wird die Prävalenz der Beschneidung aus nicht religiösen Gründen für die USA je nach Statistik mit 60-75% angegeben. Die Mehrdeutigkeit der sozialen Praxis der Zirkumzision lässt sich dabei nicht zuletzt an der Umkehrung des Verhältnisses von Tradition, Moderne und männlicher Beschneidung im internationalen präventiv-medizinischen Beschneidungsdiskurs ablesen: Im Rahmen der gegenwärtig durchgeführten Beschneidungsprogramme von UNAIDS zur HIV-Prävention im südlichen Afrika wird die kulturell bedingte Ablehnung der Zirkumzision in einigen Bevölkerungsteilen zum präventiv-medizinischen Problem.

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