Autonomie und Menschenwürde – Origenes in der Philosophie der Neuzeit

Obwohl postum verketzert, ist der griechische Kirchenvater Origenes in der abendländischen Geistesgeschichte allgegenwärtig. Im humanistischen Italien des 15. Jahrhunderts wiederentdeckt, trägt sein Freiheitsdenken maßgeblich zur Ausbildung des Gedankens einer inkommensurablen menschlichen Würde bei. Es ist Quelle der Inspiration für eine erste profunde Kritik an Ansätzen eines philosophischen Naturalismus, wie sie die Schule von Cambridge in Auseinandersetzung mit der Wissenschaft und neuen Philosophie des 17. Jahrhunderts formuliert. Eine geistige Verwandtschaft schließlich verbindet die Freiheitsmetaphysik des Origenes mit den an Kant anknüpfenden Autonomie-Ethiken der klassischen deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts.
            Origenes verkörpert eine jeder starren Dogmatik abholde, hypothesenfreudige Theologie, die bei aller metaphysischen Stringenz alternativen Konzepten ausdrücklich offen und lernbereit gegenübersteht. Dieser im antiken Christentum singuläre akademische Denkstil entspringt dem alles beherrschenden Grundanliegen seiner Philosophie: der sittlichen Autonomie und Entwicklung des Menschen. Ausgangspunkt seines vielschichtigen Systementwurfs ist die in deterministischen Kosmologien gnostischer und philosophischer Provenienz angezweifelte Selbstbestimmung des Menschen: In einem ersten christlichen Traktat über das Wesen der Freiheit verteidigt Origenes ihre Realität unter Berufung auf das Zeugnis der Schrift und die Natur der Vernunft. Seine Predigten entfalten eine anspruchsvolle christliche Ethik, und eine erste umfassende Apologie des Christentums aus seiner Feder bietet eine systematisch ambitionierte Theorie des Natur- und Widerstandsrechts. Vom Faktum der Freiheit her denkt sein spekulatives System schließlich die wesenhafte Geschichtlichkeit von Gott, Mensch und Natur. Sein Begriff der sittlichen Autonomie, den er von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und von der inneren Gesetzlichkeit seiner Vernunft her entfaltet, macht den christlichen Platoniker Origenes zu einem geistigen Vater der neuzeitlichen Philosophie.
            Der Humanismus des 15. Jahrhunderts ist zugleich eine Renaissance origeneischen Denkens. So setzt sich der junge Humanist Pico della Mirandola, ein bedeutender Vertreter der Platonikerschule von Florenz, wortreich für seine kirchliche Rehabilitation ein, und in seiner berühmten Rede über die Würde des Menschen schreibt er praktisch die dynamische Anthropologie des Alexandriners aus. Vor allem aber ist es Erasmus von Rotterdam, der über die Vermittlung englischer Theologen wie John Colet und Thomas More mit den Schriften des Origenes in Berührung kommt. Seine literarische Auseinandersetzung mit dem Reformator Martin Luther geschieht auf der Grundlage des origeneischen Freiheitsdenkens, das er dem von seinem Gegner geltend gemachten Gnadenkonzept augustinischer Prägung resolut entgegenhält. Er wird so zum „Anwalt eines neuzeitlichen Christentums“ (Christine Christ-von Wedel), das unverkennbar origeneischen Geist atmet.
            Die Reformulierung zentraler Einsichten der origeneischen Ethik und Anthropologie im Kontext des neuzeitlichen Siegeszuges der experimentellen Naturwissenschaften und der neuen Philosophien eines Hobbes, Descartes oder Spinoza ist eines der zentralen Verdienste der heute weithin in Vergessenheit geratenen Schule von Cambridge. Ihr großer Systematiker, der Philosoph Ralph Cudworth, wendet sich gegen den atheistischen Materialismus, wie ihn Hobbes seiner Ansicht nach aus dem naturwissenschaftlichen Atomismus der Zeit ableiten will: Seine Apologie einer unkörperlichen Substanz, die, vom universalen Guten als ihrem inneren Wesensprinzip angetrieben, freier und selbstbestimmter Bewegungsursprung sei, bildet den Ausgangspunkt eines geistesgeschichtlich höchst bedeutsamen Entwurfes zu einer systematischen Autonomie-Ethik. Mit ihrem Eintreten für die sittliche Autonomie sowie die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Menschen repräsentieren die Cambridge-Platoniker allgemein eine tolerante christliche Vernunftreligion origeneischen Zuschnitts.
            Es ist sehr wahrscheinlich, dass Kant die Systemschrift des Cambridge-Platonikers Ralph Cudworth in einer lateinischen Übersetzung gelesen hat. In jedem Fall steht seine Ethik der Autonomie und der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen in dem von Denkern wie Erasmus und Cudworth (und damit mittelbar auch von Origenes) geformten Denkfluidum. Gleiches gilt für seine „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, seine Postulatenlehre, mit der er die sittlichen Grundüberzeugungen des Christentums, das Ethos universaler Liebe, in die lingua franca einer für alle Vernunftwesen kategorisch verpflichtenden praktischen Rationalität übersetzt. Der Naturbegriff der Kritik der Urteilskraft und gewisse Ansätze des Opus postumum deuten eine spekulativ-naturphilosophische Kontextualisierung seiner Freiheitsphilosophie an, die in den kritisch an ihn anknüpfenden Systembildungen des Deutschen Idealismus breit ausgeführt wird. Die auffallenden geistesgeschichtlichen Parallelen zum Freiheitsdenken des Origenes sind zwar bekannt, aber bislang kaum eingehend erforscht worden. In diesem interdisziplinären Symposion, das Philosophen und Theologen ebenso ansprechen soll wie Klassische Philologen oder Historiker, sollen das Freiheitsdenken des Origenes und seine neuzeitliche Rezeption bis zum Deutschen Idealismus in Pilotstudien dargestellt werden. Ziel ist seine systematische Würdigung der Relevanz origeneischen Freiheitsdenkens und seiner verschiedenen geschichtlichen Reformulierungen für gegenwärtige Fragen der Normbegründung und der Rolle, die der christlichen Religion und einer systematischen Religionsphilosophie darin zukommen kann und soll.