Plakat zum Workshop
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© Julius Noack

Tagungsbericht Literatur und Strafrecht im 17. und 18. Jahrhundert (WWU Münster 2019)

Noch vor dem festlichen Auftakt am 20. Januar 2020 eröffnete ein Workshop am 18. und 19. Dezember 2019 den neuen Sonderforschungsbereich Recht und Literatur an der WWU Münster akademisch. Unter dem Titel Literatur und Strafrecht im 17. und 18. Jahrhundert und unter der Leitung von Eric Achermann (A 03) und Gideon Stiening (MGK) wurde diskutiert, wie sich Rechtsfragen materialiter in die Literatur einschreiben und Literatur umgekehrt in rechtlichen und rechtsphilosophischen Zusammenhängen fungiert. Auf dem Programm standen zentrale Themen der Aufklärung wie die Legitimität von Folter und Todesstrafe, die Phänomene der Selbstjustiz und Selbsterhaltung, die Vereinbarkeit von positivem und Naturrecht sowie von göttlicher und säkularer Rechtsbegründung. Es zeigte sich, dass bei der in der Forschung allenthalben hervorgehobenen Tendenz, das Straf- und Prozessrecht zu humanisieren bzw. zu rationalisieren, gelehrte Exzesse bei der theoretischen Durchdringung des Strafvollzugs genauso wenig übersehen werden dürfen wie die Grenzen rein utilitaristischer Erwägungen, die historische Faktizität von religiösem Fanatismus, Kindsmord und Justizopfern sowie die bare Sensationslust der Rezipienten.

Dem Kindsmord als einem Schlüsseldelikt im Verhältnis von Strafrecht und Literatur widmete sich JUTTA HEINZ (Freiburg i. Br.). Den rechtlichen Rahmen steckte sie zeitlich mit der Constitutio Criminalis Carolina (1532) und Kants Metaphysik der Sitten (1785) ab. Anhand von Harsdörffers Großem Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte (1650) entwarf sie ein typisches Verlaufsschema, das im Sturm und Drang aufgegriffen werde, um unter Rückgriff auf Prozessakten Kindsmord in emotionalisierender Form als gesellschaftliches Versagen zu deuten. Im späten 18. Jahrhundert werde die Frage nach dem strafrechtlichen Umgang mit Kindsmörderinnen genutzt, um die tabuisierte Debatte über eine Relativierung der Sexualmoral zu führen. Buchstäblich zur ‚Farce‘ gerät die Debatte in Moritz August von Thümmels Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich (1791), wenn einem Mädchen Haare und Zähne einer hingerichteten Kindermörderin implantiert werden, um sie vor einem eigenen Fehltritt zu warnen.

HANS-JOACHIM JAKOB (Siegen) stellte die Frage nach der Gattungszugehörigkeit von Harsdörffers Großem Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte (1650). Am ehesten handelt es sich demnach um eine frühneuzeitliche Erzählkompilation in digestenartigen Zusammenfassungen. Der studierte Jurist greife dabei aber nicht auf Aktenstücke, sondern vor allem auf die Erzählungen des Bischofs Jean Pierre Camus zurück und verfolge dabei ein Prinzip stupender Qualität. Die Strafe sei dabei immer zweifellos, da bei Vermittlungspannen Verlass auf die göttliche Gerechtigkeit ist. Im populären Medium der Rechtsvermittlung entwerfe Harsdörffer so eine Mikrologie juristischer Spezialfragen (wie die Verantwortlichkeit von Schlafwandlern oder die Tötung eines Diebes auf frischer Tat) und zeige dabei die Lücken des Rechtssystems (wie die Unzuverlässigkeit der Folter) auf.

Dass ein Werk auch erst im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte an rechtstheoretische Diskurse regelrecht herangeschrieben werden kann, demonstrierte ANNA SEBASTIAN (Hamburg). In diesem Sinn erweitert Christoph Kormart das Maria Stuart-Trauerspiel Joost van den Vondels bei seiner bearbeitenden Übersetzung zum Schultheater nicht nur erheblich. Die eingefügten Szenen zeichnen sich vielmehr gerade dadurch aus, dass sie Prozess-Szenen ergänzen und strafrechtliche Fragen diskursivieren. In der Folge trete der Gegensatz von kaiserlich-römischem und englischem Recht in Maria Stuart, oder Gemarterte Majestät (1672) viel deutlicher als in van den Vondels niederländischer Vorlage hervor. Der Fokus liege dabei auf der Durchsetzung des Gemeinwohls und auf der Sicherung eines funktionierenden Staates.

Jacob Döplers Kompilation Theatrum Poenarum. [...] Oder Schau-Platz der Leibes- und Lebensstraffen (1693/1697) untersuchte UDO ROTH (München) unter der Frage, für wen diese Sammlung eigentlich gedacht sei. Einerseits intendiert die Formulierung des Untertitels explizit ein juristisch gebildetes Publikum und der angesehene Strafrechtsgelehrte Paul Johann Anselm von Feuerbach lobt das Theatrum Poenarum ausdrücklich als eine wirkliche Fallsammlung. Andererseits versammele Döpler hier eine Vielzahl kruder Beispiele für Morde, aber gerade auch für Formen natürlichen Ablebens oder für Unfälle ohne eine vorliegende Straftat. Am Ende zeigte sich daher von einem historisch vergleichenden Interesse an juristischen Detailfragen bis hin zu voyeuristischer Sensationslust ein ganzes Spektrum möglicher Rezeptionsweisen.

Philosophiegeschichtlich betrachtete FRANZ HESPE (Marburg) den ‚Geist der Strafe‘ aus der Perspektive von Montesquieus De l’esprit des loix (1748). Im elften und zwölften Buch handelt Montesquieu über die Freiheit des Bürgers gegenüber der Verfassung und gegenüber anderen Bürgern. Durch die Verschränkung beider Bereiche seien sowohl freie Verfassungen mit unfreien, weil vor einander ungeschützten Bürgern möglich wie auch freie Bürger unter unfreien Verfassungen, wenn trotz des Schutzes vor anderen Bürgern eine Teilung der Gewalten fehlt. Allerdings betonte Hespe, dass bei Montesquieu zum einen Sitten und Gebräuche für das Freiheits- und Sicherheitsgefühl der Bürger wichtiger seien als die Straf- und Prozessordnungen. Zum anderen unterscheide Montesquieu mit Religion, Sitte, Ruhe und Sicherheit vier Strafkategorien, zuständig seien die ordentlichen Gerichte dabei aber nur für einen Teilbereich, namentlich den der öffentlichen Sicherheit.

In seinem Abendvortrag nahm DIETER HÜNING (Trier) seinen Ausgang von Voltaires Traité sur la tolérance (1763) und seiner Kritik am religiösen Fanatismus. Anlass der Schrift ist die Hinrichtung Jean Calas’, der fälschlicherweise in Verdacht gerät, seinen Sohn ermordet zu haben, um ihn an der Konversion zum Katholizismus zu hindern. In Wirklichkeit handelte es sich um einen Selbstmord, den Calas um der Ehre seines Sohnes und seiner Familie Willen vertuschen wollte. Während der Vater von den Mühlen der Justiz schmählich gerichtet wird, verklärt die katholische Kirche den eigentlichen Täter zum Märtyrer. In seiner publizistischen Kampagne gehe Voltaire dann über die Forderung nach einer Rehabilitierung des Justizopfers hinaus und übe grundsätzliche Kritik an der religiösen Legitimation des Ancien Régime.

Zustimmung fand dieser Vorstoß bei Cesare Beccaria, dessen einflussreiche Schrift Dei delitti e delle pene (1764) GIDEON STIENING (Münster) kritisch einordnete. Dass sein Essay auf dem Index landete und Beccaria für die Neuauflage gezwungen war, seine rein säkulare Sicht theonom zu rahmen, zeige die Grenzen einer Aufklärung, die auf praktischen Erfolg abzielt. Fluchtpunkt des Vortrags war Beccarias gelassene Betrachtung der Homosexualität. Während für Christian Wolff die als ‚Knabenschänderei‘ gebrandmarkte Sexualpraktik gegen das Naturrecht verstoße und Adam Bergk ihre staatliche Bestrafung fordere, erkennt Beccaria in ihr lediglich ein Laster, das strafrechtlich nicht zu verfolgen sei. Wie bei seiner Ablehnung von Folter und Todesstrafe argumentiere Beccaria dabei konsequent utilitaristisch: Der Staat profitiere mehr davon, die vermeintlichen Ursachen von Homosexualität präventiv zu bekämpfen. Von einer Humanisierung oder Rationalisierung des Rechts könne aber keine Rede sein, da reine Nützlichkeitserwägungen unter veränderten Ausgangsbedingungen zu ganz anderen Empfehlungen führen könnten.

Zwischen Christoph Martin Wieland und Friedrich Heinrich Jacobi kommt es aufgrund einer gelehrten Auseinandersetzung um Volkssouveränität und göttliches Recht zum Zerwürfnis. MICHAEL SCHWINGENSCHLÖGL (München) analysierte mit Schach Lolo (1778) Wielands satirische Überführung dieses rechtstheoretischen Diskurses ins Medium der Literatur. Im orientalischen Setting wird der erkrankte, epikureische Despot Lolo durch den Arzt Duban geheilt. Doch kann der gewissenhafte Gelehrte den Schach nur äußerlich kurieren, innerlich bleibt er ein Despot, der in perverser Willkür das Strafrecht beugt. Da aber bei Wieland Gott hinter aller weltlichen Herrschaft steht, wird die ungerechte Strafe göttlich sanktioniert: Wie Lolo an einem durch Duban vergifteten Buch stirbt, wächst der Kopf des ungerecht Gerichteten wieder nach. Das göttliche Recht setzte sich final an die Stelle des korrumpierten Staatsrechts. Juridisch müsse dieses Ende der Satire zweifelhaft bleiben, doch werde Wielands anstößige ius divinum-Deutung damit ästhetisch kommensurabel.

JENS OLE SCHNEIDER (Jena) entwarf eine Imaginationsgeschichte des absoluten polizeilichen Blicks. Ab dem 17. Jahrhundert wird die Ikonographie des allsehenden, göttlichen Auges säkularisiert – zunächst durch eine Übertragung auf den absolutistischen Herrscher, im 18. Jahrhundert dann auf das Recht. Sinnlich konkret wird dieses Faszinosum in Willey Reveleys Plan of the Panopticon of Jeremy Bentham (1791). Der potentiell permanent beobachtende Beobachter, der selbst nicht beobachtet werden kann, erweckt in diesem Entwurf ein immerwährendes Gefühl kontrolliert zu werden. Doch lege Friedrich Schiller die Grenzen der Imagination eines absoluten Blicks im Dramenentwurf Die Polizey (1799–1804) ästhetisch offen. Anders als die ‚Policey‘ genannte Gesamtheit allumfassender Sicherheits- und Wohlfahrtsmaßnahmen wird die ‚Polizei‘ hier eine sichtbare Institution der Gefahrenabwehr mit einer anthropologisch begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit. Polizeispione werden ihrerseits beobachtet und die Praxis von Präventionseingriffe erweise Schiller als potentiell illegitim.

Die Kernszenen von Schillers Wilhelm Tell (1804) untersuchte OLIVER BACH (München) unter dem Gesichtspunkt rechtstheoretischer Fragestellungen. Demnach ist Tells Handeln zwischen den Spannungspolen von väterlicher Schutz- und Bürgerpflicht zu beurteilen. Für den Familienvater wäre der Verzicht auf die conservatio sui eine schwerwiegende Unterlassungssünde, doch ist die selbsterhaltende Notwehr nur im Abgleich mit einem möglichen Interesse der Allgemeinheit am Überleben des Landvogts zu begründen. Ein untugendhafter Stellvertreter wie Geßler ist eingedenk der Theorien von Hermann Conring, Alberico Gentili und Gottlieb Achenwald zwar nicht positiv-rechtlich zu belangen, wohl aber naturrechtlich schuldig. Zweck sei dabei nicht die Bestrafung des Delinquenten, sondern die zukünftige Sicherung des Gemeinwohls vor dem Täter. Dass Gott das Privileg zu strafen zufalle, Tell jedoch selbst Geßler erschießt, löste Bach dahingehend auf, dass die selbstauferlegte Beschränkung der Vergeltung auf einen Schuss einem Gottesurteil gleichkomme.

Einer kantischen Lektüre unterzog PHILIPP-ALEXANDER HIRSCH (Göttingen) Kleists Novelle Michael Kohlhaas (1810). Dass gerade sein Rechtsgefühl den Protagonisten zum Rechtsbruch führe, lasse sich im Rückgriff auf Kants absolute Straftheorie dahingehend auflösen, dass es iure materialiter geboten sei, dem Junker von Tronka ein Strafübel aufzuerlegen, doch dass iure formaliter der von Kohlhaas eingeschlagene Weg der Selbstjustiz ihn ins Unrecht setze. Schließlich obliege im bürgerlichen Zustand die strafgerechte Durchsetzung proportionaler Sanktionen für den Übeltäter dem Staat. Im Rückgriff auf Kants Lehre vom ‚höchsten Gut‘ sah Hirsch den Rechtsbrecher als glücksunwürdig an: Da nach der praktischen Vernunft Glückseligkeit und Glückswürdigkeit verknüpft sein müssen, sei von Tronka zweifelsfrei zu strafen, jedoch müsse dies auch formaliter korrekt geschehen.

Wie sich bereits in den Diskussionen erwies, verspricht der Austausch rechts- wie literaturgeschichtlichen Wissens Erkenntnisgewinne für alle Beteiligten. Texte und Diskurse lassen sich in ihrer wechselseitigen Durchdringung von Recht und Literatur erfassen und in größere historische wie theoretische Zusammenhänge einordnen. Auch führt eine interdisziplinäre Betrachtung zur Schärfung von Beobachtungen und Begrifflichkeiten wie etwa bei der basalen Unterscheidung von Strafe im Sinne von poena einerseits oder im Sinne von restitutio, Vergeltung, andererseits. Folgerichtig wird das aufgenommene Gespräch in Kooperation zwischen dem SFB 1385 ‚Recht und Literatur‘ und interessierten Fachkollegen in Form eines Arbeitskreises ‚Literatur und Strafrecht‘ für den Untersuchungszeitraum vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert fortgesetzt.

Sebastian Speth (A 03)