Januar des Jahres 1077: Nach einer beschwerlichen Überquerung der Alpen stand der deutsche König Heinrich IV. im tiefsten Winter, so berichtet der Chronist Lampert von Hersfeld in seinen Annalen, „nach Ablegung der königlichen Gewänder ohne alle Abzeichen der königlichen Würde, ohne die geringste Pracht zur Schau zu stellen, barfuß und nüchtern vom Morgen bis zum Abend, das Urteil des Papstes erwartend“ vor den Toren der Burg Canossa.
Mit diesem rituellen Akt inszenierter Demütigung, dem sprichwörtlich gewordenen ‚Gang nach Canossa‘, wollte Heinrich seine Lösung vom Kirchenbann durch Papst Gregor VII. erreichen, der den Salier auf der Fastensynode in Rom 1076 exkommuniziert hatte. Die berühmte Szene gilt als Höhepunkt des sogenannten Investiturstreits. Die Bezeichnung Investiturstreit ist jedoch insofern irreführend, als dass sich der hiermit verknüpfte Konflikt nicht in der namensgebenden Frage der investitura (‚Einkleidung‘), also der symbolischen Amtseinsetzung, erschöpfte. Im Kern ging es im Investiturzeitalter um die grundlegende, epochale Frage nach der göttlichen Weltordnung und nach dem Verhältnis der mittelalterlichen Universalgewalten Papst- und Kaisertum. Neben dem konkreten Ereignisverlauf möchte das Proseminar daher die geistes- und religionsgeschichtlichen Vorbedingungen und Hintergründe des Investiturstreits untersuchen, etwa das seit karolingischer Zeit etablierte Eigenkirchenwesen und die vom Modell des Klosters Cluny ausgehenden Kirchenreformen des 11. Jahrhunderts. Schließlich werden wir Ergebnisse und Folgen des Konflikts beleuchten, der erst viele Jahre nach dem Tod seiner bekanntesten Protagonisten mit dem Wormser Konkordat (1122) beigelegt werden konnte.
Das Proseminar dient zugleich der grundlegenden Einführung in die Arbeitstechniken und Methoden mediävistischer Quellenkritik und macht mit wichtigen Fragestellungen und Hilfsmitteln des Faches vertraut.

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Semester: WiSe 2020/21