"Eine gewaltige Verletzung der Menschenrechte"

Philosoph Prof. Dr. Thomas Pogge mahnt Reformen im globalen Gesundheitssystem an
2011-04-20 Vortrag Pogge

 Dem gegenwärtigen weltweiten System zur Versorgung mit Medikamenten stellt der Philosoph Prof. Dr. Thomas Pogge (Yale University) ein vernichtendes Zeugnis aus. Es setze die falschen Anreize für die Pharma-Industrie und führe durch die strukturelle Benachteiligung der Ärmsten dieser Welt zu einer „Verletzung der Menschenrechte“, betonte Pogge bei seinem Vortrag am Mittwochabend in Münster. Ein von ihm initiiertes Reformprojekt soll dabei helfen, die pharmazeutische Forschung wieder in die richtigen Bahnen zu lenken und auch armen Menschen den Zugang zu essentiellen Medikamente zu ermöglichen.

Anders als man es womöglich von einem Philosophen erwartet hätte, hielt sich Professor Pogge bei seinem Vortrag „Ein gerechteres globales Gesundheitssystem“ nicht mit normativ-theoretischen Debatten auf. Als herausragender Schüler und zugleich größter Kritiker des bekannten Philosophen John Rawls liegt ihm vor allem daran, dessen Theorie der Gerechtigkeit zur Anwendung zu bringen. Seit einigen Jahren wirbt er weltweit und auf vielen politischen Ebenen für ein konkretes Projekt – den „Health Impact Fund“. Erst letzte Woche wurde er dazu als Experte im Europäischen Parlament in Brüssel angehört. Gern nahm er nun die Einladung der Kolleg-Forschergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ an, seine konkreten Vorschläge öffentlich mit dem Münsteraner Publikum zu diskutieren.

Bisher regelt das sogenannte TRIPS-Abkommen – neben anderen Rechtsbereichen – die Patentvergabe von Medikamenten. Diesem internationalen Übereinkommen zufolge wird für medizinische Innovationen ein 20-jähriges Patent gewährleistet, um die Forschungs- und Entwicklungskosten decken zu können. Pogge wies in seinem Vortrag darauf hin, dass die damit geschaffene Monopolstellung zu hohen Preisen und zur übermäßigen Entwicklung von Kopien umsatzstarker Medikamente führt, welche die knappen Forschungskapazitäten in hohem Maße bindet. Außerdem fördere das Abkommen zu stark die Forschung und Entwicklung von Medikamenten zur Bekämpfung von Wohlstandskrankheiten.

Der „Health Impact Fund“ hingegen soll als internationaler Fonds Entlohnungen für pharmazeutische Unternehmen bereithalten, je nachdem, in welchem Umfang die Medikamente zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheitsversorgung beitragen. Hierfür käme das bereits im Gesundheitsmarketing etablierte Messverfahren des qualitätskorrigierten Lebensjahres (quality adjusted life year oder auch QALY) zum Einsatz. Teilnehmende Unternehmen sollen so nicht nur in Entwicklungsländern, sondern – durch preislich erschwinglichere Produkte – auch in wohlhabenderen Staaten Kunden gewinnen können. Damit entsteht, nach Pogge, eine Win-Win Situation: das Problem der medizinischen Unterversorgung der armen Menschen wird erstmals systematisch in Angriff genommen und zugleich wird den Pharmaunternehmen ein neuer Markt eröffnet. Zudem ließe sich das bei vielen Unternehmen angekratzte Image wieder aufpolieren.

Wie bei vielen politischen Projekten steht die Frage der Finanzierung im Vordergrund. Diese soll über einen kleinen Prozentsatz des Bruttonationaleinkommens (BNE) der teilnehmenden Länder erfolgen. Mit 0,03 Prozent des BNE würden insgesamt jährlich 6 Mrd. Dollar im Fonds zur Verfügung stehen. Dieser Betrag ist ungefähr ein Sechstel von dem, was 2004 weltweit allein an Werbemaßnahmen für pharmazeutische Produkte ausgegeben wurde. "Diese finanzielle Investition sind wir den armen Menschen schuldig", so Pogge, denn das TRIPS-Abkommen hat bezüglich des Gesundheitsrückstands der Armen bereits viel Schaden angerichtet.