Debatten- und Protestkultur. Vortragsreihe des Interdisziplinären Frankreich-Forums

Plötzlich wurden die Wege zu den Nachbarn weit: Grenzschließungen zwischen Frankreich und Deutschland gehörten am Anfang der Pandemie plötzlich nicht mehr nur in eine ferne Vergangenheit, sondern in die Lebensrealität vieler Menschen in der heutigen EU. Systemvergleiche waren keine Theorie mehr, sondern wurden während der Krise zum Gegenstand öffentlicher Debatten: Würde die zentralstaatliche Organisation der Französischen Republik oder die föderale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eher Antworten auf die globale Krise finden, die auch die beiden befreundeten Nachbarländer mit unerwarteter Wucht traf? Horrorszenarien aus anderen europäischen Ländern wurden durch die Medien bekannt und Systemskepsis gegen die staatliche Gesundheitspolitik fand hier wie dort Gehör. Herausforderungen an die Solidarität, Humanität und Besonnenheit führten einerseits zu beeindruckender Hilfsbereitschaft, andererseits zu weit verbreiteter Verunsicherung und wurden schließlich mehr und mehr zu einer dramatischen Belastung.

Wird sich eher das zentralstaatliche Prinzip in Frankreich oder das föderale in Deutschland bei der Krisenbewältigung bewähren? Sollte man längerfristig die Schulen schließen, wie es die deutsche Politik wollte, oder ausdrücklich nicht, wie es in Frankreich vorgezogen wurde? Wie würde sich das Protestpotential der Gilets jaunes in Frankreich oder der Lockdown-Gegner in Deutschland entwickeln? Wie würden die Volkswirtschaften beider Länder reagieren, wie lange die Ausnahmesituation des Lockdowns aushalten? Würden nationalistische Kräfte in beiden Ländern von der Krise profitieren? Sollte man nationale Alleingänge in der Gesundheitspolitik wagen oder kollegial im Rahmen der EU handeln – und wie reagieren auf die mangelhafte Planung der EU-Organe? In der deutsch-französischen Nachbarschaft überwiegt bislang die Solidarität wechselseitiger Hilfe und die Einsicht, dass die aktuelle Krise, die in ihrer Dramatik historische Dimensionen hat, nicht die Tendenzen einer Erosion der EU befördern soll. Wird es so bleiben?

Wie aber die Gesellschaften beider Länder aus der Krise hervorgehen, wenn sie vielleicht Ende 2021/Anfang 2022, nach mehr als zweijähriger Dauer, zu Ende gehen sollte, ist eine offene und drängende Frage. Werden wir solidarischer sein als zuvor oder vermehrt auf Eigeninteressen setzen? Wird das politische Europa aus der Krise doch noch gestärkt hervorgehen können – und welche mittel- und langfristigen Folgen wird die Krise für die Gesellschaften in Frankreich und Deutschland haben?