Spektakulärer Fund: Griechische Originalpredigten des Origenes zu den Psalmen entdeckt

In der Bayerischen Staatsbibliothek in München sind in einer umfangreichen Handschrift (371 folios) aus dem 11./12. Jahrhundert (Codex Monacensis graecus 314) 29 bislang unbekannte Predigten des Origenes zu den Psalmen im griechischen Original gefunden worden. Dies gab die Staatsbibliothek in einer Pressemitteilung am 11. Juni 2012 bekannt (den vollen Wortlaut der Pressemitteilung finden Sie hier).

Der Fund kann als sensationell eingestuft werden und ist von allerhöchster Bedeutung für die Origenesforschung und die Geschichte des frühen Christentums. Vom umfangreichen Predigtwerk des Origenes lagen bislang lediglich 21 in griechischer Sprache vor, die übrigen in lateinischen Übersetzungen aus der Spätantike. Mit dem Fund sind somit insgesamt 50 Originalpredigten des Origenes zugänglich. Auch für die Geschichte der Psalmenexegese ist der Fund von höchster Wichtigkeit. Von der umfangreichen Psalmenauslegung des Origenes lagen bislang nur Fragmente vor, die in mühsamer philologischer Kleinarbeit aus den späteren Katenen (Kettenkommentaren) gewonnen werden müssen; dazu gibt es neun Homilien in lateinischer Übersetzung. Mit den 29 neuen Predigten ist ein guter Teil der Psalmenauslegung des Origenes nunmehr im Original zugänglich.

Der Codex trägt auf dem Umschlag den Titel „Homilien zum Psalter“, die auf dem Titelblatt einem „unbekannten Autor“ zugewiesen werden. Bei der Katalogisierung der griechischen Handschriften aus der Büchersammlung Johann Jakob Fuggers erkannte Dr. Marina Molin Pradel (Padua) am 5. April 2012 (Gründonnerstag) den wahren Inhalt der Handschrift: Sie entdeckte, dass der Codex vier der fünf Homilien über Psalm 36 enthält, die in lateinischer Übersetzung vorliegen; darüber hinaus stellte sie fest, dass die im Codex abgeschriebenen Psalmenhomilien weitgehend den Informationen entsprechen, die Hieronymus (Brief 33) in seinem Verzeichnis der Werke des Origenes bietet. Das gilt besonders für neun Predigten über Psalm 77. Infolgedessen bat sie Prof. Dr. Lorenzo Perrone (Bologna) am 21. Mai um eine fachliche Expertise zu dem Text. Dieser unterzog den Codex umgehend einer eingehenden Analyse und kam zu dem Schluss, dass das exegetische Verfahren in den Predigten, die theologischen Inhalte und die stilistischen Merkmale auf Origenes als Verfasser weisen. Zudem lassen sich einige Exzerpte aus diesen Homilien in den Fragmenten wiederfinden, die bislang von der Psalmenauslegung des Origenes bekannt waren.

Eine sichere Zuweisung aller neugefundenen Predigten an Origenes kann natürlich erst nach einer eingehenden wissenschaftlichen Untersuchung erfolgen. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, bereitet ein Team unter der Leitung von Lorenzo Perrone gegenwärtig die Transkription des Textes und seine kritische Edition vor. Dieser Fund wird die Origenesforschung sicherlich auf Jahre hinaus beschäftigen und inspirieren. Man darf gespannt sein, welche Einsichten sich daraus ergeben werden.

Ein Digitalisat der Handschrift kann im Internet frei zugänglich eingesehen werden:
http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0005/bsb00050972/images/index.html