Visuell-vestibuläre Interaktionen
Die Blickfeldstabilisierung ist eine der Hauptfunktionen des vestibulo-okulären Reflexes (VOR). Fehlt dieser, so kommt es im Rahmen von
Körperbewegungen zu Oszillopsien (Dandy-Phänomen). Die bisher zum linearen VOR publizierten Untersuchungen beschäftigen sich
überwiegend mit dem horizontalen und kaum mit dem vertikalen linearen VOR, obwohl der Mensch im täglichen Leben ständig vertikalen linearen
Beschleunigungen (Gehen, Rennen) ausgesetzt ist. Ziel dieser Arbeit war es, den vertikalen linearen VOR in einem physiologischen Stimulusbereich (Amplitude 5 cm;
Frequenz 1,2 Hz) zu untersuchen.
Die vertikale lineare Stimulation erfolgte durch Auf- und Abwärtsbewegung der Testpersonen mittels eines computergesteuerten Hubstuhl-Prototyps
(DFG-Projekt Sto 133/3-1). Folgende visuell-vestibuläre Stimuli wurden getestet: Fixationssuppression, isolierte vestibuläre, isolierte visuelle und
kombinierte visuell-vestibuläre Stimulation sowie statisches und dynamisches Sehvermögen. Neben der Testung von gesunden Probanden wurden bei
Patienten (Pat.) mit einem beidseitigen Ausfall der horizontalen Bogengangsfunktion und bei Pat. mit einer Hyperreaktion in der Rotationsprüfung die
Intensität des angulären und des vertikalen linearen VOR verglichen. Darüber hinaus wurden die visuell-vestibulären Interaktionen sowie das
Sehvermögen während vertikaler Ganzkörperoszillation bei gesunden Probanden vor und nach Alkoholkonsum analysiert.
Gesunde Testpersonen wiesen bei
isolierter visueller und isolierter vestibulärer Stimulation vertikale Augenbewegungen auf. Diese waren bei vestibulärer Reizung ein der
Körperauslenkung entgegengerichteter Kompensationsmechanismus. Es zeigt sich jedoch, dass bei isolierter vestibulärer oder isolierter visueller Reizung im
Rahmen der gewählten Stimulusparameter keine suffiziente optische Kompensation der induzierten vertikalen Körperauslenkung auftrat, da die erzeugte
Augengeschwindigkeit zu gering war. Demgegenüber bewirkte die gleichzeitige Stimulation beider Systems eine ausreichende Augengeschwindigkeit und somit
auch eine befriedigende Blickfeldstabilisierung - das dynamische Sehvermögen.
Ursächlich liegen einem eingeschränkten dynamischen Sehvermögen eine verlängerte Latenzzeit und somit eine unterschiedlich
ausgeprägte Verzögerung zwischen Reizbeginn und Start der vertikalen Augenbewegung zugrunde.
Nur bei einem Teil der untersuchten Pat. mit beidseitig fehlender Erregbarkeit des horizontalen Bogengangs fand sich gleichzeitig auch eine eingeschränkte
Blickfeldstabilisierung während vertikaler Körperauslenkung als Zeichen eines gestörten linearen VOR. Von einer fehlenden Erregbarkeit des
horizontalen Bogengangs auf einen Funktionsverlust des gesamten vestibulären Labyrinthes zu schließen, ist somit unzulässig. Bei den Pat. mit
nachweisbarem Dandy-Phänomen waren im Vergleich zu den gesunden Probanden bei isolierter vestibulärer Stimulation keine und bei kombinierter
visuell-vestibulärer Stimulation schwächere Reizantworten zu registrieren. Diese Pat. waren zwar in der Lage, durch Aktivierung ihres okulomotorischen
Systems eine Teilkompensation zu entwickeln, die jedoch für eine suffiziente Blickfeldstabilisierung nicht ausreichte. Bei Pat. mit einer Hyperreaktion
während der Rotationsprüfung war ebenfalls eine gesteigerte Reaktion des vertikalen linearen VOR nachweisbar, die sich in beiden Fällen in einer
erhöhten Augengeschwindigkeit äußerte. Pathophysiologisch kann nur eine zentrale Ursache vorliegen, die dort zu einer Störung führt, wo
die Informationen des angulären und linearen VOR auf die gleichen neuronalen Strukturen konvergieren. Bei diesen Pat. bestand zudem eine tendenziell gesteigerte
Augengeschwindigkeit bei isolierter visueller Stimulation. Diese ist Ausdruck einer erhöhten Aktivität des okulomotorischen Systems. Tierexperimentell
fanden sich Neurone, die sowohl auf visuelle als auch auf vestibuläre Reize reagieren. Die Ursache für die visuelle und vestibuläre Enthemmung muss
demnach auf dieser höheren neuronalen Ebene zu suchen sein. Eine zerebrale mikroangiopathische Genese, die z.T. auch im MRT nachgewiesen werden konnte, ist
zu vermuten.
Alkohol bewirkte bei einer Atemalkoholkonzentration
(AAK) von ca. 0,32 mg/l eine Dämpfung des okulomotorischen Systems, die sowohl bei isolierter visueller als auch bei kombinierter visuell-vestibulärer
Stimulation zu einer verlängerten Latenzzeit führte. Diese Latenzzeitzunahme ist ursächlich für die nach Alkoholkonsum auftretende
Störung des dynamischen Sehvermögens verantwortlich.
Sowohl die Latenzzeitverlängerung bei isolierter visueller Stimulation als auch die Einschränkung des dynamischen Sehvermögens zeigen eine
signifikant positive Korrelation mit dem subjektiven Betrunkenheitsgefühl, jedoch nicht mit der AAK.
Abschließend bleibt festzustellen, dass das vorgestellte Untersuchungskonzept zur Prüfung des vertikalen linearen VOR sowie des dynamischen
Sehvermögens interessante Einblicke in die Physiologie und die zentralen Mechanismen der Blickfeldstabilisierung während vertikaler linearer
Ganzkörperbeschleunigungen liefern. Darüber hinaus sind die verschiedenen visuell-vestibulären Stimuli geeignet, Störungen nach
Alkoholkonsum, bei Pat. mit beidseitigem Ausfall der horizontalen Bogengangsfunktion oder einer Hyperreaktion des angulären VOR aufzudecken.
Beteiligter Wissenschaftler:
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