Quellenübung (Donnerstag, 10-12 Uhr): Mikrogeschichte und Makrogeschichte: Das Tagebuch der Glückel von Hamel (1691-1719) zwischen individueller Erfahrung und globalen Strömungen

Die Mikrogeschichte entwickelte sich als Reaktion auf mehrere dominante historiografische Strömungen der 1950er bis 1970er Jahre. Sie wandte sich gegen die quantitative und serielle Geschichtsschreibung der französischen Annales-Schule, die langfristige Strukturen und umfassende Modelle in den Vordergrund stellte – häufig auf Kosten individueller Erfahrungen. Ebenso kritisierte sie die orthodox-marxistische Geschichtsschreibung, die soziales Handeln primär aus Klassenverhältnissen und ökonomischen Dynamiken ableitete und dabei kulturelle Komplexität sowie individuelle Subjektivität vernachlässigte. Schließlich stellte sie sich auch gegen die Tendenz der Makrogeschichte, Ausnahmen, Abweichungen und Randphänomene als „nicht repräsentativ“ auszublenden. Demgegenüber setzten Mikrohistoriker eine „umgekehrte“ Perspektive: Ausgehend vom Kleinen, Abweichenden oder Randständigen suchten sie danach, die großen Erzählungen zu hinterfragen und die verborgenen Mechanismen von Macht, Wissen und sozialem Handeln sichtbar zu machen.

Unter Anwendung mikrohistorischer Methoden werden wir im Rahmen der Übung die Memoiren der Glückel von Hameln lesen, um Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens einer Frau und ihrer Familie aus der jüdischen Gemeinde Altonas zu untersuchen. Dabei sollen ihre Erfahrungen in den größeren Kontext der politischen Rahmenbedingungen für jüdische Gemeinden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gestellt werden – ebenso wie in die Rolle jüdischer Netzwerke im internationalen Handel, in den Alltag jüdischer Familien und in ihre Beziehungen zur christlichen Umwelt. Glikl bas Judah Leib (ca. 1645–1724) gilt als erste bekannte deutschsprachige Autobiografin. Ihre zwischen 1691 und 1719 verfassten Memoiren wurden 1910 von Berta Pappenheim, der Gründerin des Jüdischen Frauenbundes, aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel Die Memoiren der Glückel von Hameln veröffentlicht. Glikl, Tochter eines aschkenasischen Diamantenhändlers, Ehefrau eines erfolgreichen Juwelen- und Diamantenhändlers und Mutter von 14 Kindern, war während ihrer 30-jährigen Ehe aktiv in das Familiengeschäft eingebunden und führte dieses nach dem Tod ihres Mannes mit großem Geschick weiter. Sie pflegte Handelsbeziehungen zu bedeutenden europäischen Städten wie Amsterdam, Leipzig, Berlin, Paris und Metz und knüpfte über die Heiraten ihrer Kinder ein weit verzweigtes Handelsnetz in Europa. Gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn Nathan besuchte sie regelmäßig die Messen in Leipzig, Braunschweig und Frankfurt. Nach ihrer zweiten Heirat mit einem Bankier aus Metz, dem sie ihr Vermögen anvertraute, verlor sie schließlich ihren gesamten Besitz.

Semester: WT 2025/26
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