Wer kennt ihn nicht? Der "Wikinger" ist populär, und er begegnet allerorten: in Museen bzw. Ausstellungen, zahlreichen Publikationen, Literatur, in Filmen, TV-Serien, Comics, bis hin zu Produktnamen und in der Werbung. Zugleich ist die "Wikingerzeit" (ca. 790-1070) seit dem 19. Jahrhundert ein feststehender Epochenbegriff für die frühmittelalterliche Übergangszeit zwischen nordeuropäischer Eisenzeit und dem Hochmittelalter geworden. Dabei meint das norröne Wort víkingr an sich nichts weiter als "Seeräuber", ohne eine spezifische ethnische Konnotation, und aus der "Wikingerzeit" selbst sind neben der Außensicht nicht-skandinavischer Zeitgenossen außer kurzen Runeninschriften keine Textzeugnisse überliefert. Die Vorlesung vermittelt einen Überblick über die Genese des Bildes von jener heidnisch-christlichen Übergangszeit, die seit den frühesten skandinavischen Erinnerungszeugnissen, die im 12. Jahrhundert verfasst wurden, immer nur in Erinnerungen, also in Konstruktionen von Vergangenheit erkennbar wird. Den Hauptgegenstand bildet die Frage, wie sich über die Jahrhunderte das Bild dieser Vergangenheit formte: von mittelalterlicher Geschichtsschreibung über die Verarbeitung mündlicher Überlieferung und die Konstruktion einer Abenteuerwelt in den "Wikingersagas" sowie den Götizismus der schwedischen Großmachtzeit bis hin zur Romantik und der Verarbeitung in den rechten Ideologien des 20. Jahrhunderts sowie dem aktuellen Epochendenken. In der Summe wird deutlich, wie eine schriftlose Epoche zum heutigen Alltagsmythos werden konnte und wie sich dieser zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen verhält.
- Lehrende/r: Roland Scheel