Im Jahre 888 war die Einheit des karolingischen Reiches endgültig zerbrochen, an seine Stelle traten neue, partikulare Königtümer – sie gelten als die Welt des Adels, der Burgen und der Fehden, deren (vermeintlich) charakteristische Züge den Rückblick auf das europäische Mittelalter bis heute prägen. In ihrer Krondomäne in der Île-de-France etablierte sich die neue Dynastie der Robertiner, aus der in der Folge die Kapetinger hervorgehen sollten. Ihre Vorrechte als Lehensherren der Fürsten zwischen Aquitanien und Flandern vermochten sie mit wechselndem Erfolg durchzusetzen.

Ein lange vorherrschendes Erklärungsmodell für die Strukturgeschichte dieser Epoche geht zurück auf die ‘École des Annales’, und namentlich auf die Schriften von Marc Bloch, Georges Duby und Karl Ferdinand Werner. Es besagt, dass die sogenannte „Feudalgesellschaft“ (Bloch) entstanden sei, als die hoheitliche Gewalt im 9. und 10. Jahrhundert an die Verleihung von ökonomischen Ressourcen in Gestalt von „Lehen“ geknüpft wurde, die dadurch gestiftete personale Beziehung zwischen Herren und Vasallen galt somit als konstitutives Merkmal einer charakteristischen, hierarchischen Sozialstruktur. Dieses Konzept ist besonders im englischsprachigen Raum schon seit den 1970er Jahren unter anderem von Elizabeth Brown und Susan Reynolds als artifizielles Konstrukt kritisiert worden. Eine neue Forschergeneration spricht zuweilen von „féodalités“ im Plural (so etwa Florian Mazel), um der zeitlichen Entwicklung des Lehenswesens, zum Beispiel der Herausbildung der Untervasallitäten, wie etwa der Burggrafschaften, und besonders auch der regionalen Vielfalt seiner Ausdrucksformen Rechnung zu tragen.

Ziel des Hauptseminares ist es, zunächst einzelne Texte aus den genannten Forschungstraditionen gemeinsam zu studieren, um sodann die darin benannten Beobachtungen an charakteristischen Quellenbeispielen nachzuvollziehen. Besonders im Vordergrund stehen sollen dabei die Begriffe, mit denen die Lehensbeziehungen zum Ausdruck gebracht werden, die Urkunden, in denen die Lehensverhältnisse ihren schriftlichen Niederschlag gefunden haben, und die bis heute sichtbaren Zeugnisse der Epoche, nämlich die zahlreichen Burgen, die als Symbol für das „Feudalzeitalter“ in Anspruch genommen werden. Auf der Basis der im Seminar behandelten Methoden zur Arbeit mit Quellen und Forschungsliteratur sollen die Studierenden in ihrer Hausarbeit ein regionales Fallbeispiel untersuchen und dazu, soweit möglich, die vorhandenen Quellen selbständig erschließen.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2025/26
ePortfolio: Nein