Zum Einstieg in das Seminarthema zwei fiktive Szenarien:
(Folgender Abschnitt illustriert Beispiele kommunikativer Gewalt. Bei Sensitivität gegenüber dem Thema am besten gleich zum Abschnitt "Was wir machen werden" springen)
Stell Dir vor, Du bist ein Journalist und schreibst aus einer Laune heraus einen humoristischen Kommentar über alternde Aggro-Berlin-HipHop-Fans. Wochen vergehen, und auf einmal merkst Du, dass diesen Artikel jemand entdeckt und in seiner Blase geteilt hat. Seitdem fegt ein tosender Mob über Dich hinweg. Das erste, was Du seither jeden Morgen auf Deinem Handy siehst, sind von X gepushte Hasskommentare und Drohungen von anonymen Konten. Oder stell Dir vor, Du hast als Pressesprecherin eines großen Sportwagenherstellers die ehrenvolle Aufgabe, einen pinken Flitzer zu vermarkten. Du siehst ein, dass das Modell und die Farbe nicht allen gefallen werden – und musst nun jeden Tag sexistische Kommentare auf der Unternehmens-Facebook-Seite lesen und wegmoderieren. Du bist froh, wenn sie sich nicht an Dir als Frau, sondern an dem Wagen selbst abarbeiten. Von diesen Kommentaren gibt es so viele, dass Du nicht mehr zu Deinen täglichen Aufgaben kommst, und die Arbeit stapelt sich Tag um Tag.
Nach aktueller Studienlage wurde fast jede zweite Person schon einmal online beleidigt1 und die Forschung zeigt, dass kommunikative Gewalt im Netz negative Auswirkungen auf die Gesundheit und die Berufsausübung von professionellen Kommunikator:innen hat (vgl. z. B. Riedl et al. 2020; Sobieraj 2020). Während man als Privatperson die Möglichkeit hat, sich aus bestimmten Räumen zurück zu ziehen, muss man als professionelle Kommunikator:in mit dem rauen Klima online umgehen lernen. Nach den neuesten Entwicklungen in den USA (Meta, X) ist davon auszugehen, dass dieses Klima sogar noch rauer werden wird.2 Aus der Forschung wissen wir aber auch, dass organisatorische Unterstützung und pädagogische Vorbereitung verbessert werden müssen (z. B. Frech et al. 2024; Springer & Troger 2021).
Was wir in den beiden Semestern machen werden:
Wir wollen uns in diesem Kurs zunächst damit auseinandersetzen, wie professionelle Kommunikator:innen ihre berufliche wie private Online-Kommunikation sehen – welche professionellen Benefits, aber auch (individuelle sowie gesamtgesellschaftliche) Kosten entstehen durch Social Media? Und wir sprechen mit Berufsverbänden oder zivilgesellschaftlichen Organisationen, welche Strukturen Betroffenen zur Unterstützung zur Verfügung stehen (was machen z. B., Berufsverbände wie DJU oder DPRG, oder die Organisation Hate Aid, um betroffenen professionellen Kommunikator:innen zu helfen?). Dieses Seminar ist daher in der Kommunikator:innenforschung verortet. Auf den Erkenntnissen dieser Leitfaden-gestützten Untersuchung in Semester 1 entwerfen wir im zweiten Semester einen Selbstlernkurs, um zukünftige Studierende auf den Umgang mit Hass im Netz im Rahmen späterer Berufsausübung vorzubereiten. Dieser Selbstlernkurs kann je nach Interesse der Teilnehmenden aus Podcasts, Lernvideos, Arbeitsblättern oder interaktiven Webseiten bestehen, und wir wollen versuchen, mit bekannten „Testimonials” dabei zu arbeiten. Das Forschungsseminar hat damit nicht nur den Anspruch, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren, sondern auch einen wichtigen Beitrag für die Ausbildung künftiger Kommunikator:innen zu leisten. Das Seminar ist eingebettet in den Kontext unseres von der Deutschen Stiftung Friedensforschung unterstützen Projekts ExKoGePe.
Studien- und Prüfungsleistungen:
Gemäß Prüfungsordnung sind als Studienleistung für den Verlauf des Seminares Kurzpräsentationen (10 x 10 Min) sowie die aktive Mitarbeit an dem Projekt vorgesehen.
Die Prüfungsleistung ist ein empirischer Projektbericht zur Vorbereitung auf die Masterarbeit (20-30 Seiten p. P.; Gruppenarbeiten möglich). In den Kurzpräsentationen werden im ersten Semester die Fortschritte und Erkenntnisse der Forschungsarbeit vorgestellt; im zweiten Semester wird auf dieser Forschungsarbeit aufbauendes pädagogisches Material erstellt, das als Kurzpräsentationen unterschiedlichster Aufbereitung (je nach Interesse: z. B. Poster, Arbeitsblätter, Videos oder Podcasts) auf der Homepage des IfK publiziert werden wird.
Referenzen/Einstiegslektüre
1 https://kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de/lauter-hass-leiser-rueckzug/
Frech, J., Lilienthal, V., & Schönbächler, V. (2024). First be safe: Exploring and improving journalists’ skills in digital security. Journalism. https://doi.org/10.1177/14648849241310847
Riedl, M. J., Masullo, G. M., & Whipple, K. N. (2020). The downsides of digital labor: Exploring the toll incivility takes on online comment moderators. Computers in Human Behavior, 107, 106262.
Sobieraj, S. (2020). Credible threat: Attacks against women online and the future of democracy. Oxford University Press.
Springer, N., & Troger, F. (2021). Du stehst unter genauer Beobachtung, unangenehmer Beobachtung. Wie Journalistinnen kommunikative Gewalt aus dem Publikum wahrnehmen und verarbeiten. Publizistik, 66(1), 43-65. https://doi.org/10.1007/s11616-020-00637-w
Vandebosch, H. & Rothmund, T. (2024). Online hate: A European communication perspective. Communications, 49(3), 371-377. https://doi.org/10.1515/commun-2024-0097
- Lehrende/r: Hannah Ötting
- Lehrende/r: Nina Springer