„Der ehrliche religiöse Denker“, so notiert Wittgenstein 1948, etwa drei Jahre vor seinem Tod, „ist wie ein Seiltänzer. Er geht dem Anscheine nach, beinahe nur auf Luft. Sein Boden ist der schmalste, der sich denken läßt. Und doch läßt sich auf ihm wirklich gehen.“

Wittgenstein ist sein ganzes Leben lang fasziniert vom Christentum, und diese Faszination nimmt – noch bevor er im Ersten Weltkrieg Tolstois Kurze Darstellung des Evangeliums liest – ihren Ausgang u. a. von einer frühen Beschäftigung mit den Schriften Sören Kierkegaards, den Wittgenstein einmal als den bei Weitem tiefsten Denker des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet.

Für Wittgenstein ist das Christentum eine untergegangene Alternative zur Moderne, und steht für die Möglichkeit eines Welt- und Selbstverhältnisses, das jedenfalls von ihm nicht mehr eingenommen werden kann. Schon 1937 schreibt er über Jesus Christus: „Und es ist wahr: ich kann ihn keinen Herrn heißen; weil mir das gar nichts sagt.“

Wittgensteins Auffassung zur Religion ist durchweg bestimmt von Respekt und Fremdheit, und immer wieder fühlt er sich genötigt, Religionen und Kulte gegen den atheistischen Szientismus seiner Zeit zu verteidigen. Seine Grundidee ist dabei, dass man Sprechakte des Glaubens – trotz ihrer oberflächengrammatischen Form – nicht als Behauptungen über die Welt im gewöhnlichen Sinne auffassen sollte. Vielleicht klingt ihm hier noch im Ohr, wie Kierkegaard den Ritter des Glaubens wesentlich dadurch charakterisiert, dass er der Sprache – und damit aller Allgemeinheit – enthoben ist. Das private, rein innerliche Gottesverhältnis, in dem sich ein christlicher Mensch nach Kierkegaard befindet, und welches sich gewiss nicht in der Form einer Behauptung veräußern lässt, verlangt eine aufmerksamere philosophische Untersuchung.

Diese Untersuchung soll im Seminar anhand von Kierkegaards theologisch-philosophischer Abhandlung Furcht und Zittern und anhand von Wittgensteins späten Lectures on Religious Belief angestellt werden. Dabei wird es immer wieder auch interessant sein, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Unternehmen beider Philosophen nachzudenken.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WT 2025/26
ePortfolio: No