Zur Schuld erwählt? Hartmanns von Aue Gregorius und Thomas Manns Der Erwählte
Ein Kind, aus einem Zwillingsinzest geboren, von der elterlichen Schuld gezeichnet, noch bevor es überhaupt auf der Welt ist, ausgesetzt – und selbst dazu bestimmt, in eine neue inzestuöse Verbindung zur eigenen Mutter zu geraten, ohne Wissen, aber nicht ohne Verantwortung: Hartmanns von Aue Gregorius erzählt die Geschichte einer ebenso radikalen wie tragischen Schuldverstrickung, die paradoxerweise in höchste kirchliche Würden mündet. Die mittelalterliche Erzählung vom guten Sünder und exzeptionellen Papst Gregorius entfaltet ein theologisch wie anthropologisch brisantes Gedankenmodell: dass Schuld nicht bloß ein zu überwindender Makel sein muss, sondern selbst Ausdruck göttlicher Gnade sein kann – dass der Mensch also zur Schuld erwählt sein kann, dass er nicht trotz seiner Verfehlung ausgezeichnet wird, sondern gerade ihretwegen.
In Der Erwählte greift Thomas Mann dieses Gedankenexperiment auf und aktualisiert es unter den Vorzeichen moderner Erzählkunst, Ironie und Nachkriegsreflexion.
Das Seminar stellt beide Texte in ein kritisches Dialogverhältnis und fragt nach den historisch-kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen sich Hartmann von Aue und Thomas Mann der Axiologie menschlicher Schuld zuwenden. Was an der Last menschlicher Schuld kann gnadenhaft wirken? Welche Bilder von Gott und vom Menschen sind in den historisch weit entfernten Texten jeweils wirksam? Und welche Rolle spielen literarische Darstellungsverfahren bei der Modellierung theologischer, anthropologischer und narrativer Sinnzusammenhänge?

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2025/26
ePortfolio: Nein