Titel: Forschendes Lernen – (Selbst)reflexive Ansätze des ethnographischen Forschens und performative Formen des Wissenstransfers

Termine: 16. 10.2025 (14:00-16:00 Uhr), 23.10.2025 (12:00-16:00), 30.10.2025 (12:00-18:00), 6.11.2025 (12:00-16:00), 18.12.2026 (12:00-14:00), 15.1.2026 (12:00-16:00 Uhr), 22.1.2026 (12:00-16:00 Uhr), 29.1.2026 (12:00 – 16:00 Uhr), 5.2.2026 (12:00-18:00 Uhr)

 

Achtung: Dieser Kurs findet eng verzahnt mit den Kursen ”Self, emotions, and womanhood. Decolonial theories and narratives from the ‘Global South’” und ”Decolonizing Race and Social classifications in and Beyond Africa” in Kooperation mit den Dozierenden Irina Savu-Cristea und Souleymane Diallo statt. Alle Kurse finden donnerstags in variierenden Timeslots zwischen 12:00 und 18:00 Uhr statt (vgl. jeweils angegebene Termine bei den einzelnen Kursen).

Als Studierende des Modul 5 Sozialanthropologie bekommt Ihr einen Einblick in alle drei Kursthematiken, meldet Euch letztendlich aber nur für die Pflichtveranstaltung ”Forschendes Lernen” und eine der beiden Wahlpflichtveranstaltungen an.

Mehr Informationen geben wir Euch in der Einführungsveranstaltung am Donnerstag, den 16.10205 (14:00-16:00 Uhr).

Veranstaltungskommentar

Im Projektseminar „Forschendes Lernen” erhalten die Studierenden Gelegenheit, eigenständig sozialanthropologische Themen und Fragestellungen zu entwickeln und diese im Rahmen von Teamarbeit in ein Wissensprodukt für den Wissenstransfer zu überführen.

In den letzten Jahrzehnten drehte sich viel in der Sozialanthropologie um die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit und ein entsprechendes Bemühen um eine 'Dekolonialisierung' der Disziplin. Die 'Krise der Repräsentation' in den 1980er Jahren thematisierte Fragen der Definitionsmacht und Autor:innenschaft und sensibilisierte im Rahmen der 'Writing Culture Debatte' dafür, dass Sozialanthropolog:innen, wenn sie 'Kulturen' beschreiben, diese auch immer konstruieren. Insbesondere kritische und feministische Sozialthnropolog:innen haben sich in ihre Schriften mit der Situiertheit von Wissen, der Reflexion von Positionalität und Forschungsethik auseinandergesetzt. Aus diesen Ansätzen haben sich auch 'wissenschaftliches Othering' (='das Andere' unreflektiert objektivierende) problematisierende, kollaborative Forschungsmethoden entwickelt. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass ethnographische Wissensprodukte (selbst)reflexiver, interaktiver, dialogischer und polyvokaler wurden. Zusätzlich kamen auch neue Lehrmethoden auf, die das Erlernen von sozialanthropologischen Fachspezifika nicht mehr als passiv zu rezipierendes Wissenskonglomerat verstehen, das rein 'belehrend' und von 'oben herab' zu vermitteln ist. Das forschende Lernen, als dialogische Lehr-Lern-Forschungsform, mit seiner kontextbezogenen Verstehensorientierung, ist darauf ausgerichtet dass Studierende und Lehrende ihre kollektiven Erfahrungen und Reflexionen aus Forschungsfeldern und -beziehungen erkenntnisgewinnend gemeinsam bearbeiten. Die Veranstaltung fokussiert dementsprechend auf einem gegenseitigem Kennen- und einem wechselseitigen Voneinanderlernen. In dieser Veranstaltung seid Ihr als Studierende aktiv an der Wissensproduktion beteiligt und erprobt Euch als Lernende zusätzlich in den Rollen von Forschenden, Lehrenden und Wissensvermittler:innen. Es werden Reflexionsräume eröffnet, in denen es idealerweise auch möglich ist Benachteiligungs- und Diskriminierungsfaktoren im akademischem Kontext zu erkennen und zu benennen und strukturell ungleiche Beziehungen zwischen Studierenden untereinander und in Beziehung zu Lehrenden zu thematisieren und zu reflektieren. (vgl. Kaufmann, S. 172f.)

Die ethnographische Methode, insbesondere die Teilnehmende Beobachtung, nutzt den eigenen Körper des/der Forschers/Forscherin als wichtigstes Werkzeug. Aber was bedeutet das eigentlich genau? Wie fühlt sich das konkret an? Und wie kommen wir über die Empfindung zum Verstehen und schließlich zu ethnologischen Einsichten? Diese Fragen versuchen wir im Rahmen dieses Projektsemimars gemeinsam zu erfahren und zu ergründen.

Augusto Boal, brasilianischer Theatertheoretiker und Entwickler des ‘Theaters der Unterdrückten’, versteht Theater als die grundlegendste menschliche Sprache. Er bezeichnet das Theater als ‘die Kunst, uns selbst zu sehen (...) uns selbst dabei zuzusehen, wie wir uns sehen.’ Theater ist daher nicht nur ein bloßes Instrument, um ethnologische Erkenntnisse einer interessierten Öffentlichkeit zu vermitteln, sondern Theatermachen kann selbst als eine ethnographische Methode zur Analyse und zum Ergründen menschlichen Seins und menschlicher Verhaltensweisen verstanden werden. Dies werden wir anhand der 'Image Theatermethode', die ich zur Analyse irritierender und kritischer (Feldforschungs)erfahrungen entwickelt habe, selbst erproben. Seit Erwing Goffman (1959) wissen wir: ‘Wir alle spielen Theater’ in unserem Alltag, verkörpern jeder unterschiedliche Rollen auf den verschiedenen Bühnen des Lebens – aber erst das bewusste Inszenieren und Nachstellen von Alltäglichem vermag uns einen verstehenden und analytischen, also einen ethnologischen Blick auf unser Handeln zu eröffnen.

In drei unterschiedlichen E-learning Workshops verschiedene Methoden der (auto)ethnographischen Dokumentation erproben: Workshop 1 ‘The social life of things’, Workshop 2 ‘Doing sensory ethnography’ und Workshop 3 ‘An autoethnographic account’. Die Workshops umfassen Aktivitäten und ethnographische Methoden wie Lesen, Schreiben, Zeichnen, Photografieren, das Aufnehmen und Erstellen eines Videoclips oder einer Soundscape, Erinnern, Imaginieren, Diskutieren und Interagieren

Schließlich evaluiert und kommentiert Ihr Eure Projekte untereinander und erprobt so verschiedene Formen der (Selbst)reflexivität. Reflexivität ist unabdingbar, wenn wir eine ethische, methodisch valide und epistemologisch erkenntnisreiche (auto)ethnographische Forschung durchführen wollen. Aus einer ethnopsychoanalytischen Perspektive ist es notwendig, dass wir zwischen dem Eigenem und dem Anderem unterscheiden lernen, um Anderes überhaupt wahrnehmen zu können und ihm nicht nur unsere eigene Projektion überzustülpen. Wie jeder Mensch erleben wir die Welt via unseres Leibes und sind so immer unabdingbar Teil dessen, was wir erfahren und beobachten. Zusätzlich haben wir jedoch die Fähigkeit über unser Erleben zu reflektieren und so bestimmte Glaubenssätze, Muster und Kategorien, die unsere und die Wahrnehmung von anderen strukturieren, zu erkennen, zu objektivieren und zu theoretisieren. Selbstreflexion hilft dem/der Forschenden dabei etwas über sie/ihn selbst zu lernen und über das sozio-kulturelle Umfeld in das er/sie enkulturalisiert wurde. Weiter lernen wir mittels Reflexion über Feldforschungserfahrungen aber auch etwas über ‘das Andere’, dem wir im Feld begegnen. Sich seiner eigenen Position und Positionalisierung im Feld bewusst zu sein und ihr kritisch reflexiv begegnen zu können, ist Voraussetzung dafür ethischen Herausforderungen oder Konflikten im Feld konstruktiv lösen zu können. Der autoethnographische Zugang und das Erfahren und Anwenden der ethnographischen Methode, die häufig für ihre subjektive, 'egozentrische' Perspektive kritisiert wird, auf den eigenen sozio-kulturellen Kontext und Körper, eignet sich hier insbesondere, um sich mit postkolonialer Kritik und der Problematik des 'Othering' in der Sozialanthropologie auseinanderzusetzen.

Im dritten Teil des Kurses werden wir gemeinsam überlegen wie wir die (auto)ethnographischen Projekte, die Ihr im Rahmen der Workshops erstellt habt, performativ aufbereiten, einem Publikum präsentieren und Eure (wissenschaftlichen) Einsichten Dritten vermitteln können. Die Ansätze der performativen (Auto)Ethnographie hinterfragen und erweitern die konventionelle Form ethnographischer Repräsentation, den ethnographischen Text.

Auf dem Weg zur gemeinsamen Erschaffung eines überzeugenden, ästhetisch ansprechenden und ethisch vertretbaren Endprodukts wird es ganz unterschiedliche Rollen und Aufgaben geben, die die Kursteilnehmer:innen in diesem Prozess übernehmen können. Wir werden gemeinsam erleben, erforschen und diskutieren welches Potential, aber auch welche Herausforderung diese Form des Wissenstransfers bietet.

Einschreibungspasswort Learnweb: ForschendesLernen#25

Termine:

16. 10.2025: Einführung (14:00-16:00 Uhr)

23.10.2025: Selbstreflexivität und (Auto)ethnography (12:00-16:00)

30.10.2025: Ethnographisches Forschen, Positionalität und Selbstreflexivität:Transformative Ethnographie + Feldforschung Verkörpert und Narrative Ethnographie + Emotionale Reflexivität (12:00-18:00)

6.11.2025: Imagetheatermethode + Einführung zu den Aufgaben: An Autoethnographic Account + Sensory Ethnography + The social Life of Things (12:00-16:00)

Bis zum 18. Dezember: E-Learning Workshops

18.12.2026: Sichtung und Strukturierung der Workshop-Projekte (12:00-14:00)

15.1.2026: Performative Sozialwissenschaften + Übungen mit eigenem Material (12:00-16:00 Uhr)

22.1.2026: Entwicklung der performativen Ausstellung im Institut für Ethnologie (12:00-16:00 Uhr)

29.1.2026: Öffentlichkeitsarbeit, letzte Vorbereitungen (12:00 – 16:00 Uhr)

5.2.2026:  Endpräsentation im Institut für Ethnologie (12:00-18:00 Uhr)

 

 

Literatur

Forschendes Lernen in der Kultur- und Sozialanthropologie

Kaufmann, Margrit E. (2019): Communities of Practice. Forschendes Lernen in der Kulturwissenschaft und Ethnologie. In: Margrit E. Kaufmann, Ayla Satilmis und Harald A. Mieg Forschendes Lernen in den Geisteswissenschaften. Konzepte, Praktiken und Perspektiven hermeneutischer Fächer. SpringerVS: Wiesbaden, 169-190.

 

Ethnographisches Forschen und (Selbst)reflexivität

Madden, Raymond (2011): Being Ethnographic - A Guide to the Theory and Practice of Ethnography . SAGE: London [u.a.].

Okely, Judith (2007): 'Fieldwork Embodied'. The Sociological Review 55 (Issue Supplement S1): 65-79. (doi: 10.1111/j.1467-954X.2007.00693.x)

Tedlock, Barbara (1991): 'From Participant Observation to the Observation of Participation: The Emergence of Narrative Ethnography'. Journal of Anthropological Research 47 (1): 69-94.

Wengle, John L. (1987): 'Death and Rebirth in Fieldwork. A Case Study'. Culture, Medicine and Psychiatry 1: 357-385.

Spencer, Dimitrina (2011): 'Emotions and the Transformative Potential of Fieldwork:. Some Implications for Teaching and Learning Anthropology'. Teaching Anthropology 1 (2): 68-97.

Okely, Judith (1996): 'The Self and Scientism'. In: Okely, Judith: Own or Other Culture. Routledge: London: 27-44.

Stodulka, Thomas, Samia Dinkelaker, and Ferdiansyah Thajib (2019): Affective Dimensions of Fieldwork and Ethnography. Cham: Springer International Publishing.

 

Workshop: An autoethnographic account: creative, autobiographic and self-reflexive writing

Burnard, P. (2007): "Seeing the Psychiatrist: An Autoethnographic Account". Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing 2007 14, pp. 808-813.

Ellis, Carolyn (1999): ‘Heartful Autoethnography’. Qualitative Health Research 9: 669-683. (DOI: 10.1177/104973299129122153)

Adams, Tony E.; Holman Jones, Stacy Linn; Ellis, Carolyn (2015): Autoethnography. [Series in Understanding Qualitative Research by Patricia Leavy] Oxford: Oxford University Press. (Ch. 5: Evaluating Autoethnography, pp. 99-115)

Johnston, Matthew (2020): 'Through Madness and Back Again: An Autoethnography of Psychosis'. Journal of Autoethnography, Vol. 1, Issue 2, pp. 137–155.

 

Workshop: The social life of things

Appadurai, Arjun (1986) The Social Life of Things – Commodities in Cultural Perspective. Cambridge [u.a.]: Cambridge Univ. Press. (Introduction: commodities and the politics of value, pp. 3-63)

Haaland, Gunnar; Haaland, Randi; Rijal, Suman (2002): ‘The Social Life of Iron – A Cross-Cultural Study of Technological, Symbolic, and Social Aspects of Iron Making’. Anthropos 2002 97 (1), pp. 35-54.

Jappie, Saarah (2011): ‘From the Madrasah to the Museum: The Social Life of the 'Kitaabs' of Capetown’. History in Africa 38, pp. 369-399.

 

Workshop: Sensory Ethnography: Doing sensory ethnography: video and audio recording, verbal description

Podcast: Egerton, Jayne (8th Jan 2014): ‘Sensory Multiculturalism in an East End Market; Cultural Passions’ Thinking Allowed, BBC Radio 4. (http://www.bbc.co.uk/programmes/b03nt9w0, Accessed on 10th October 2016)

Pink, Sarah (2013): ‘Engaging the Senses in Ethnographic Practice: Implications and Advances’. The Senses and Society 8 (3), pp. 261-267 (DOI: 10.2752/174589313X13712175020433).

Pink, Sarah (2010): ‘The Future of Sensory Anthropology/The Anthropology of the Senses’. Social Anthropology 18 (3), pp. 331-340 (doi:10.1111/j.1469- 8676.2010.00119.x).

 

Performative (Auto)ethnographie

Spry, Tami (2011): Body, Paper, Stage. Writing and Performing Autoethnography. Routledge: New York [u.a.].

Spry, Tami (2017): 'Who are "We" in Performative Autoethnography?! International Review of Qualitative Research, 10 (1): 46-53.

Spry, Tami (2001): Performing Autoethnography: An Embodied Methodological Praxis. Qualitative Inquiry, 7 (6): 706-732.

Gergen, M. M., & Gergen, K. J. (2011). Performative Social Science and Psychology. Historical Social Research / Historische Sozialforschung, 36(4 (138)), 291–299. http://www.jstor.org/stable/23032295

 

 

Performance Ethnography, Ethnographic Drama and Ethnotheatre

Alexander, Bryant Keith (2005): 'Performance Ethnography – The Reenacting and Inciting of Culture'. In: Denzin, Norman K. and Yvonna S. Lincoln: The Sage Handbook of Qualitative Research. Sage: Thousand Oaks, Calif. [u.a.]: 411-441.

Hamera, Judith (2018): ‘Performance Ethnography’. In: Denzin, Norman K. and Yvonna S. Lincoln: The Sage Handbook of Qualitative Research (5th Edition). Sage: Thousand Oaks, Calif. [u.a.]: 359-376.

Saldana, Johnny (2018): ‘Ethnodrama and Ethnotheatre’. In: Denzin, Norman K. and Yvonna S. Lincoln: The Sage Handbook of Qualitative Research (5th Edition). Sage: Thousand Oaks, Calif. [u.a.]: pp. 377-394.

Dellenborg, Lisen and Margret Lepp (2018): 'The Development of Ethnographic Drama to Support Healthcare Professionals'. Anthropology in Action 25 (1): 1-14.

Patterson, Paul and Persephone Sextou (2017): ''Trapped in the Labyrinth': Exploring Mental Illness Through Devised Theatrical Performance'. Medical Humanities 43: 86-91.

Cavanagh, Sheila L. (2013): Affect, Performance, and Ethnographic Methods in Queer Bathroom Monologues. Text and Performance Quarterly 33 (4): 286-307.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WT 2025/26
ePortfolio: No