Historisch bedingt ist Galizien eine mehrsprachige, plurikulturelle Region: Einst zu Polen-Litauen gehörend, gelangte Galizien im Zuge der polnischen Teilungen zum Habsburger Imperium, war nach 1918 Bestandteil des wiederentstandenen polnischen Staates; nach dem 2. Weltkrieg wurde Ostgalizien Teil der ukrainischen Sowjetrepublik und gehört heute zur unabhängigen Ukraine. Einen beutenden Anteil an der Bevölkerung hatten bis zur Shoah Jüdinnen und Juden. Entsprechend finden sich, gerade in der Zeit zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, die im Mittelpunkt des Seminars stehen werden, Werke in deutscher, jiddischer, polnischer und ukrainischer Sprache aus der Region. Viele der Autor*innen waren auch selbst mehrsprachig: So war etwa Bruno Schulz, der durch seine in polnischer Sprache verfassten Erzählzyklen Sklepy Cynamonowe (1933, Die Zimtläden) und Sanatorium pod Klepsydra (1936, Das Sanatorium zur Sanduhr) Berühmtheit erlangte, an einer Übersetzung Kafkas beteiligt. Deborah Vogel, Autorin avantgardistischer Lyrik in jiddischer Sprache, wechselte aus dem Polnischen in diese Sprache. Ebenfalls einer jüdischen galizischen Familie entstammte Joseph Roth, der mit seinem Roman Radetzkymarsch (1932) einen Nachruf auf das Habsburger Imperium vorlegte.
Das Seminar stellt diese vielfältigen und vielsprachigen Literaturen Galiziens vor und fragt danach, welche Relevanz die Plurikulturalität der Region hatte. Vor dem Hintergrund, dass viele der behandelten Autor*innen jüdischen Familien entstammten, bildet die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Facetten des Judentums der Zeit, die sich zwischen ostjüdischem Chassidismus über orthodoxe Richtungen, ersten Ansätzen einer religiösen Liberalisierung, (Kultur-)Zionismus bis hin zu Assimilation spannten, einen weiteren Aspekt, der für die Sprachwahl und die Poetik der Werke eine Rolle spielte. Exemplarisch für die rückblickende Behandlung der plurikulturellen Vergangenheit Galiziens in der neuesten ukrainischen Literatur soll abschließend Sofija Andruchovycs Roman Felix Austria (2014, dt.: Der Papierjunge) betrachtet werden.
- Lehrende/r: Regina Grundmann
- Lehrende/r: Irina Wutsdorff